allen Bezügen pedantisch verengten Lebens sich auflösen, ehe daraus neue Gestalten zu freier Bildung sich ent¬ wickeln konnten. Wir Jetztlebenden alle haben unsern Antheil an diesen Ergebnissen, wir Alle genießen der Frucht jener Bemühungen, auch wo wir es nicht wissen, noch ahnden. Jene Zeit ist vorüber als Epoche der Nation, aber dem Einzelnen wiederholt sie sich als Uebergang noch stets in eigner Lebenserfahrung. Den Eindruck, welchen Werther einst auf die ganze Generation machte, bewirkt er noch heutiges Tages auf die einzelne Bildungsstufe des liebenden Mädchens, des beseelten Jünglings.
Wir sind hinweg, wie über jenen ersten allzu hef¬ tigen Eindruck des Buches, auch über jene ersten Vor¬ würfe, welche denselben begleiteten, und in Gegenschriften, Verdammungsurtheilen und Warnungen überschwänglich an den Tag kamen. Wir sind hinweg über die er¬ träumten Gefahren, welche die Schwäche auch hier zu finden glaubte, wie überall, wo ihr Großes und Starkes begegnet, das sie dafür zur Vergeltung zu allen Zeiten so gern als Unsittliches bezeichnen wollte; die traurige Schwäche, welche da meint, die Tugend sei zaghafte Furcht, und nicht muthige Tapferkeit! Denn welches ächte Buch, von nur irgend wahrem Gehalt und Kunst¬ werth, wäre nicht zuerst immer von dieser Seite ange¬ tastet worden? Wir sind bei dem Werther gottlob über Aeußerlichkeiten aller Art hinweg; wir sehen und leben ein Inneres in ihm, das uns niemand mehr verkümmern darf.
allen Bezuͤgen pedantiſch verengten Lebens ſich aufloͤſen, ehe daraus neue Geſtalten zu freier Bildung ſich ent¬ wickeln konnten. Wir Jetztlebenden alle haben unſern Antheil an dieſen Ergebniſſen, wir Alle genießen der Frucht jener Bemuͤhungen, auch wo wir es nicht wiſſen, noch ahnden. Jene Zeit iſt voruͤber als Epoche der Nation, aber dem Einzelnen wiederholt ſie ſich als Uebergang noch ſtets in eigner Lebenserfahrung. Den Eindruck, welchen Werther einſt auf die ganze Generation machte, bewirkt er noch heutiges Tages auf die einzelne Bildungsſtufe des liebenden Maͤdchens, des beſeelten Juͤnglings.
Wir ſind hinweg, wie uͤber jenen erſten allzu hef¬ tigen Eindruck des Buches, auch uͤber jene erſten Vor¬ wuͤrfe, welche denſelben begleiteten, und in Gegenſchriften, Verdammungsurtheilen und Warnungen uͤberſchwaͤnglich an den Tag kamen. Wir ſind hinweg uͤber die er¬ traͤumten Gefahren, welche die Schwaͤche auch hier zu finden glaubte, wie uͤberall, wo ihr Großes und Starkes begegnet, das ſie dafuͤr zur Vergeltung zu allen Zeiten ſo gern als Unſittliches bezeichnen wollte; die traurige Schwaͤche, welche da meint, die Tugend ſei zaghafte Furcht, und nicht muthige Tapferkeit! Denn welches aͤchte Buch, von nur irgend wahrem Gehalt und Kunſt¬ werth, waͤre nicht zuerſt immer von dieſer Seite ange¬ taſtet worden? Wir ſind bei dem Werther gottlob uͤber Aeußerlichkeiten aller Art hinweg; wir ſehen und leben ein Inneres in ihm, das uns niemand mehr verkuͤmmern darf.
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allen Bezuͤgen pedantiſch verengten Lebens ſich aufloͤſen,
ehe daraus neue Geſtalten zu freier Bildung ſich ent¬
wickeln konnten. Wir Jetztlebenden alle haben unſern
Antheil an dieſen Ergebniſſen, wir Alle genießen der Frucht
jener Bemuͤhungen, auch wo wir es nicht wiſſen, noch
ahnden. Jene Zeit iſt voruͤber als Epoche der Nation,
aber dem Einzelnen wiederholt ſie ſich als Uebergang noch
ſtets in eigner Lebenserfahrung. Den Eindruck, welchen
Werther einſt auf die ganze Generation machte, bewirkt
er noch heutiges Tages auf die einzelne Bildungsſtufe
des liebenden Maͤdchens, des beſeelten Juͤnglings.
Wir ſind hinweg, wie uͤber jenen erſten allzu hef¬
tigen Eindruck des Buches, auch uͤber jene erſten Vor¬
wuͤrfe, welche denſelben begleiteten, und in Gegenſchriften,
Verdammungsurtheilen und Warnungen uͤberſchwaͤnglich
an den Tag kamen. Wir ſind hinweg uͤber die er¬
traͤumten Gefahren, welche die Schwaͤche auch hier zu
finden glaubte, wie uͤberall, wo ihr Großes und Starkes
begegnet, das ſie dafuͤr zur Vergeltung zu allen Zeiten
ſo gern als Unſittliches bezeichnen wollte; die traurige
Schwaͤche, welche da meint, die Tugend ſei zaghafte
Furcht, und nicht muthige Tapferkeit! Denn welches
aͤchte Buch, von nur irgend wahrem Gehalt und Kunſt¬
werth, waͤre nicht zuerſt immer von dieſer Seite ange¬
taſtet worden? Wir ſind bei dem Werther gottlob uͤber
Aeußerlichkeiten aller Art hinweg; wir ſehen und leben ein
Inneres in ihm, das uns niemand mehr verkuͤmmern darf.
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/455>, abgerufen am 23.11.2024.
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