Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

hoch. Man glaubt sich in einer Felsenspalte fortzubewegen. Wer
nicht im fünften Stock wohnt, der kann den Himmel nicht sehen,
es sei denn, daß er rückwärts den Kopf zum Fenster hinausstreckt
und senkrecht über sich schaut. Dieß verschafft indessen nicht
wenigen Leuten den Vortheil, daß sie bei hellem Tage, wie aus
einem tiefen Brunnen, die Sterne sehen können. Diese engen
Straßen haben nur Eine Gasse; das Pflaster läuft abwärts von
den Häusern zur Mitte; sie sind mit einem sehr dicken Kothe
bedeckt; Karren, Pferde, Kutschen, Menschen und Esel arbeiten
denselben gemeinschaftlich durcheinander, denn Fußbänke sucht
man zur Seite vergebens. -- Ich habe mich sehr lange bemüht,
die vortheilhaften Seiten dieser Unannehmlichkeiten auszufinden,
um mich besser damit vertragen zu können, und ich bin endlich
so glücklich gewesen, zu entdecken, daß die ersten Gründe des
französischen Nationalkarakters in diesen engen Straßen, in die¬
sem Mangel an Fußbänken, und in diesem Kothe zu finden sind.
Jedermann weiß, Gewandtheit des Körpers und Schlauheit der
Seele sind die Hauptzüge desselben; ist es aber zu verwundern,
daß man gewandt wird, wenn man beständig auf den Fußspitzen
hüpfen, wenn man unter allen nur denkbaren Stellungen und
Windungen sich um Savoyarden, Perückenmacher, Mehlkrämer
und Laternenweiber jeden Augenblick wegschieben muß, damit man
das Aussehen eines reinlichen und rechtlichen Mannes nicht ver¬
liere! -- ist es zu verwundern, wenn man zu gleicher Zeit im¬
mer vorwärts und rückwärts sehen muß, um nicht gerädert zu
werden? -- Lachen Sie nicht, liebe Frau Base! der Karakter
des Volks bildet sich nach dem Karakter der Hauptstadt; dieß
kann man in Deutschland sehen, wo weder eins noch das andre
Statt hat; kleine Ursachen, aber die unablässig wirken, erzeugen
große Effekte; selbst zufällig erworbene Eigenschaften werden zu¬
letzt erblich -- hinter diesen drei Bollwerken bin ich für jeden

hoch. Man glaubt ſich in einer Felſenſpalte fortzubewegen. Wer
nicht im fuͤnften Stock wohnt, der kann den Himmel nicht ſehen,
es ſei denn, daß er ruͤckwaͤrts den Kopf zum Fenſter hinausſtreckt
und ſenkrecht uͤber ſich ſchaut. Dieß verſchafft indeſſen nicht
wenigen Leuten den Vortheil, daß ſie bei hellem Tage, wie aus
einem tiefen Brunnen, die Sterne ſehen koͤnnen. Dieſe engen
Straßen haben nur Eine Gaſſe; das Pflaſter laͤuft abwaͤrts von
den Haͤuſern zur Mitte; ſie ſind mit einem ſehr dicken Kothe
bedeckt; Karren, Pferde, Kutſchen, Menſchen und Eſel arbeiten
denſelben gemeinſchaftlich durcheinander, denn Fußbaͤnke ſucht
man zur Seite vergebens. — Ich habe mich ſehr lange bemuͤht,
die vortheilhaften Seiten dieſer Unannehmlichkeiten auszufinden,
um mich beſſer damit vertragen zu koͤnnen, und ich bin endlich
ſo gluͤcklich geweſen, zu entdecken, daß die erſten Gruͤnde des
franzoͤſiſchen Nationalkarakters in dieſen engen Straßen, in die¬
ſem Mangel an Fußbaͤnken, und in dieſem Kothe zu finden ſind.
Jedermann weiß, Gewandtheit des Koͤrpers und Schlauheit der
Seele ſind die Hauptzuͤge deſſelben; iſt es aber zu verwundern,
daß man gewandt wird, wenn man beſtaͤndig auf den Fußſpitzen
huͤpfen, wenn man unter allen nur denkbaren Stellungen und
Windungen ſich um Savoyarden, Peruͤckenmacher, Mehlkraͤmer
und Laternenweiber jeden Augenblick wegſchieben muß, damit man
das Ausſehen eines reinlichen und rechtlichen Mannes nicht ver¬
liere! — iſt es zu verwundern, wenn man zu gleicher Zeit im¬
mer vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts ſehen muß, um nicht geraͤdert zu
werden? — Lachen Sie nicht, liebe Frau Baſe! der Karakter
des Volks bildet ſich nach dem Karakter der Hauptſtadt; dieß
kann man in Deutſchland ſehen, wo weder eins noch das andre
Statt hat; kleine Urſachen, aber die unablaͤſſig wirken, erzeugen
große Effekte; ſelbſt zufaͤllig erworbene Eigenſchaften werden zu¬
letzt erblich — hinter dieſen drei Bollwerken bin ich fuͤr jeden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0030" n="16"/>
hoch. Man glaubt &#x017F;ich in einer Fel&#x017F;en&#x017F;palte fortzubewegen. Wer<lb/>
nicht im fu&#x0364;nften Stock wohnt, der kann den Himmel nicht &#x017F;ehen,<lb/>
es &#x017F;ei denn, daß er ru&#x0364;ckwa&#x0364;rts den Kopf zum Fen&#x017F;ter hinaus&#x017F;treckt<lb/>
und &#x017F;enkrecht u&#x0364;ber &#x017F;ich &#x017F;chaut. Dieß ver&#x017F;chafft inde&#x017F;&#x017F;en nicht<lb/>
wenigen Leuten den Vortheil, daß &#x017F;ie bei hellem Tage, wie aus<lb/>
einem tiefen Brunnen, die Sterne &#x017F;ehen ko&#x0364;nnen. Die&#x017F;e engen<lb/>
Straßen haben nur Eine Ga&#x017F;&#x017F;e; das Pfla&#x017F;ter la&#x0364;uft abwa&#x0364;rts von<lb/>
den Ha&#x0364;u&#x017F;ern zur Mitte; &#x017F;ie &#x017F;ind mit einem &#x017F;ehr dicken Kothe<lb/>
bedeckt; Karren, Pferde, Kut&#x017F;chen, Men&#x017F;chen und E&#x017F;el arbeiten<lb/>
den&#x017F;elben gemein&#x017F;chaftlich durcheinander, denn Fußba&#x0364;nke &#x017F;ucht<lb/>
man zur Seite vergebens. &#x2014; Ich habe mich &#x017F;ehr lange bemu&#x0364;ht,<lb/>
die vortheilhaften Seiten die&#x017F;er Unannehmlichkeiten auszufinden,<lb/>
um mich be&#x017F;&#x017F;er damit vertragen zu ko&#x0364;nnen, und ich bin endlich<lb/>
&#x017F;o glu&#x0364;cklich gewe&#x017F;en, zu entdecken, daß die er&#x017F;ten Gru&#x0364;nde des<lb/>
franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Nationalkarakters in die&#x017F;en engen Straßen, in die¬<lb/>
&#x017F;em Mangel an Fußba&#x0364;nken, und in die&#x017F;em Kothe zu finden &#x017F;ind.<lb/>
Jedermann weiß, Gewandtheit des Ko&#x0364;rpers und Schlauheit der<lb/>
Seele &#x017F;ind die Hauptzu&#x0364;ge de&#x017F;&#x017F;elben; i&#x017F;t es aber zu verwundern,<lb/>
daß man gewandt wird, wenn man be&#x017F;ta&#x0364;ndig auf den Fuß&#x017F;pitzen<lb/>
hu&#x0364;pfen, wenn man unter allen nur denkbaren Stellungen und<lb/>
Windungen &#x017F;ich um Savoyarden, Peru&#x0364;ckenmacher, Mehlkra&#x0364;mer<lb/>
und Laternenweiber jeden Augenblick weg&#x017F;chieben muß, damit man<lb/>
das Aus&#x017F;ehen eines reinlichen und rechtlichen Mannes nicht ver¬<lb/>
liere! &#x2014; i&#x017F;t es zu verwundern, wenn man zu gleicher Zeit im¬<lb/>
mer vorwa&#x0364;rts und ru&#x0364;ckwa&#x0364;rts &#x017F;ehen muß, um nicht gera&#x0364;dert zu<lb/>
werden? &#x2014; Lachen Sie nicht, liebe Frau Ba&#x017F;e! der Karakter<lb/>
des Volks bildet &#x017F;ich nach dem Karakter der Haupt&#x017F;tadt; dieß<lb/>
kann man in Deut&#x017F;chland &#x017F;ehen, wo weder eins noch das andre<lb/>
Statt hat; kleine Ur&#x017F;achen, aber die unabla&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig wirken, erzeugen<lb/>
große Effekte; &#x017F;elb&#x017F;t zufa&#x0364;llig erworbene Eigen&#x017F;chaften werden zu¬<lb/>
letzt erblich &#x2014; hinter die&#x017F;en drei Bollwerken bin ich fu&#x0364;r jeden<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0030] hoch. Man glaubt ſich in einer Felſenſpalte fortzubewegen. Wer nicht im fuͤnften Stock wohnt, der kann den Himmel nicht ſehen, es ſei denn, daß er ruͤckwaͤrts den Kopf zum Fenſter hinausſtreckt und ſenkrecht uͤber ſich ſchaut. Dieß verſchafft indeſſen nicht wenigen Leuten den Vortheil, daß ſie bei hellem Tage, wie aus einem tiefen Brunnen, die Sterne ſehen koͤnnen. Dieſe engen Straßen haben nur Eine Gaſſe; das Pflaſter laͤuft abwaͤrts von den Haͤuſern zur Mitte; ſie ſind mit einem ſehr dicken Kothe bedeckt; Karren, Pferde, Kutſchen, Menſchen und Eſel arbeiten denſelben gemeinſchaftlich durcheinander, denn Fußbaͤnke ſucht man zur Seite vergebens. — Ich habe mich ſehr lange bemuͤht, die vortheilhaften Seiten dieſer Unannehmlichkeiten auszufinden, um mich beſſer damit vertragen zu koͤnnen, und ich bin endlich ſo gluͤcklich geweſen, zu entdecken, daß die erſten Gruͤnde des franzoͤſiſchen Nationalkarakters in dieſen engen Straßen, in die¬ ſem Mangel an Fußbaͤnken, und in dieſem Kothe zu finden ſind. Jedermann weiß, Gewandtheit des Koͤrpers und Schlauheit der Seele ſind die Hauptzuͤge deſſelben; iſt es aber zu verwundern, daß man gewandt wird, wenn man beſtaͤndig auf den Fußſpitzen huͤpfen, wenn man unter allen nur denkbaren Stellungen und Windungen ſich um Savoyarden, Peruͤckenmacher, Mehlkraͤmer und Laternenweiber jeden Augenblick wegſchieben muß, damit man das Ausſehen eines reinlichen und rechtlichen Mannes nicht ver¬ liere! — iſt es zu verwundern, wenn man zu gleicher Zeit im¬ mer vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts ſehen muß, um nicht geraͤdert zu werden? — Lachen Sie nicht, liebe Frau Baſe! der Karakter des Volks bildet ſich nach dem Karakter der Hauptſtadt; dieß kann man in Deutſchland ſehen, wo weder eins noch das andre Statt hat; kleine Urſachen, aber die unablaͤſſig wirken, erzeugen große Effekte; ſelbſt zufaͤllig erworbene Eigenſchaften werden zu¬ letzt erblich — hinter dieſen drei Bollwerken bin ich fuͤr jeden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/30
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/30>, abgerufen am 23.11.2024.