demüthigen, oder, wenn dies nicht gelang, mich noch Mehreren verhaßt zu machen. So lange ich nicht daran dachte, daß man ohne Gunst seiner Mitbürger nicht glücklich unter ihnen leben kann, so lebte ich dar¬ über in gänzlicher Sorglosigkeit; aber nun, da ich meine Lebensart mir wählen sollte, fing ich es an zu fühlen, und es vermehrte meine Aengstlichkeit über mein künf¬ tiges Schicksal, ohne den lebendigen Entschluß hervor¬ zubringen, mich zu ändern, sondern ich fing vielmehr an, diejenigen, über deren Fehler ich bisher nur ge¬ spottet hatte, zu verachten. Nur mein unbedingtes Vertrauen auf meine Freunde, und die Gewißheit, daß diese mich liebten, rettete mich von der Klippe, an der Rousseau scheiterte: mich auf der einen und alle andern Menschen auf der andern Seite als zwei Parteien zu betrachten. Ich entschloß mich also, eine Reise zu machen und meinen Lieblingsgedanken auszuführen, Kant zu sehen und zu sprechen. Reinhold in Jena hatte mich durch seine Theorie des Vorstellungsvermögens sehr an¬ gezogen, und ich versprach mir eine Erweiterung meiner philosophischen Kenntnisse durch seinen Umgang; ich be¬ schloß daher, den Winter in Jena zuzubringen. Ich fand hier Reinhold so liebenswürdig, als ich mir ihn vorgestellt hatte, und sein Haus war mein liebster Aufent¬ halt. Ich kam in vertraulichen Umgang mit Schiller und erlangte die Freundschaft Wielands. Dies war Lohn genug für diese kleine Reise, aber es war mir
demuͤthigen, oder, wenn dies nicht gelang, mich noch Mehreren verhaßt zu machen. So lange ich nicht daran dachte, daß man ohne Gunſt ſeiner Mitbuͤrger nicht gluͤcklich unter ihnen leben kann, ſo lebte ich dar¬ uͤber in gaͤnzlicher Sorgloſigkeit; aber nun, da ich meine Lebensart mir waͤhlen ſollte, fing ich es an zu fuͤhlen, und es vermehrte meine Aengſtlichkeit uͤber mein kuͤnf¬ tiges Schickſal, ohne den lebendigen Entſchluß hervor¬ zubringen, mich zu aͤndern, ſondern ich fing vielmehr an, diejenigen, uͤber deren Fehler ich bisher nur ge¬ ſpottet hatte, zu verachten. Nur mein unbedingtes Vertrauen auf meine Freunde, und die Gewißheit, daß dieſe mich liebten, rettete mich von der Klippe, an der Rouſſeau ſcheiterte: mich auf der einen und alle andern Menſchen auf der andern Seite als zwei Parteien zu betrachten. Ich entſchloß mich alſo, eine Reiſe zu machen und meinen Lieblingsgedanken auszufuͤhren, Kant zu ſehen und zu ſprechen. Reinhold in Jena hatte mich durch ſeine Theorie des Vorſtellungsvermoͤgens ſehr an¬ gezogen, und ich verſprach mir eine Erweiterung meiner philoſophiſchen Kenntniſſe durch ſeinen Umgang; ich be¬ ſchloß daher, den Winter in Jena zuzubringen. Ich fand hier Reinhold ſo liebenswuͤrdig, als ich mir ihn vorgeſtellt hatte, und ſein Haus war mein liebſter Aufent¬ halt. Ich kam in vertraulichen Umgang mit Schiller und erlangte die Freundſchaft Wielands. Dies war Lohn genug fuͤr dieſe kleine Reiſe, aber es war mir
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demuͤthigen, oder, wenn dies nicht gelang, mich noch
Mehreren verhaßt zu machen. So lange ich nicht
daran dachte, daß man ohne Gunſt ſeiner Mitbuͤrger
nicht gluͤcklich unter ihnen leben kann, ſo lebte ich dar¬
uͤber in gaͤnzlicher Sorgloſigkeit; aber nun, da ich meine
Lebensart mir waͤhlen ſollte, fing ich es an zu fuͤhlen,
und es vermehrte meine Aengſtlichkeit uͤber mein kuͤnf¬
tiges Schickſal, ohne den lebendigen Entſchluß hervor¬
zubringen, mich zu aͤndern, ſondern ich fing vielmehr
an, diejenigen, uͤber deren Fehler ich bisher nur ge¬
ſpottet hatte, zu verachten. Nur mein unbedingtes
Vertrauen auf meine Freunde, und die Gewißheit, daß
dieſe mich liebten, rettete mich von der Klippe, an der
Rouſſeau ſcheiterte: mich auf der einen und alle andern
Menſchen auf der andern Seite als zwei Parteien zu
betrachten. Ich entſchloß mich alſo, eine Reiſe zu
machen und meinen Lieblingsgedanken auszufuͤhren, Kant
zu ſehen und zu ſprechen. Reinhold in Jena hatte mich
durch ſeine Theorie des Vorſtellungsvermoͤgens ſehr an¬
gezogen, und ich verſprach mir eine Erweiterung meiner
philoſophiſchen Kenntniſſe durch ſeinen Umgang; ich be¬
ſchloß daher, den Winter in Jena zuzubringen. Ich
fand hier Reinhold ſo liebenswuͤrdig, als ich mir ihn
vorgeſtellt hatte, und ſein Haus war mein liebſter Aufent¬
halt. Ich kam in vertraulichen Umgang mit Schiller
und erlangte die Freundſchaft Wielands. Dies war
Lohn genug fuͤr dieſe kleine Reiſe, aber es war mir
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/269>, abgerufen am 24.11.2024.
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