einem sagen können, das noch in keinem Buche steht. Man achtet nur das geniale Selbstdenken und ver¬ achtet zu sehr das zu den wirklichen Vorfällen des menschlichen Lebens nothwendige Ausüben dessen, was man weiß, wenn es auch kein völlig gründliches Wissen ist. Man setzt das Brauchbare mit dem Gemeinen in eine Klasse und strebt nur nach dem Bewunderns¬ würdigen, wenn es auch dem Menschen nichts nützen kann.
Im Jahr 1790 im Frühjahr verließ mich zuerst mein Freund Osterhausen, um eine weite Reise zu machen, und im Sommer darauf verließ ich auch Würzburg. Ich reis'te nach Frankfurt am Main, um die Wahl und Krönung Kaiser Leopolds zu sehen, und hatte davon den Nutzen, daß ich allen Geschmack, sol¬ chen kostbaren Ceremonien nachzulaufen, verlor, und ging mit reiflicherer Erwägung des Spruchs: "Alles ist eitel," zurück, als ich gekommen war. Meine Ge¬ müthsstimmung war in dieser Zeit trauriger, als sie bisher noch je war, denn nun sollte ich wählen, wie ich der Welt nützlich sein und mich selbst ernähren wollte. Meine Wahl des medicinischen Studiums war mehr ein schneller Entschluß als eine durch Ueberlegung auf Anregung bestimmter Neigung getroffene Wahl. Alles, was ich gelernt hatte, lernte ich, weil ich Ge¬ schmack daran fand. Was ich that, that ich ohne alle Rücksicht auf Belohnung, weil es mir gefiel. Dies
einem ſagen koͤnnen, das noch in keinem Buche ſteht. Man achtet nur das geniale Selbſtdenken und ver¬ achtet zu ſehr das zu den wirklichen Vorfaͤllen des menſchlichen Lebens nothwendige Ausuͤben deſſen, was man weiß, wenn es auch kein voͤllig gruͤndliches Wiſſen iſt. Man ſetzt das Brauchbare mit dem Gemeinen in eine Klaſſe und ſtrebt nur nach dem Bewunderns¬ wuͤrdigen, wenn es auch dem Menſchen nichts nuͤtzen kann.
Im Jahr 1790 im Fruͤhjahr verließ mich zuerſt mein Freund Oſterhauſen, um eine weite Reiſe zu machen, und im Sommer darauf verließ ich auch Wuͤrzburg. Ich reiſ'te nach Frankfurt am Main, um die Wahl und Kroͤnung Kaiſer Leopolds zu ſehen, und hatte davon den Nutzen, daß ich allen Geſchmack, ſol¬ chen koſtbaren Ceremonien nachzulaufen, verlor, und ging mit reiflicherer Erwaͤgung des Spruchs: „Alles iſt eitel,“ zuruͤck, als ich gekommen war. Meine Ge¬ muͤthsſtimmung war in dieſer Zeit trauriger, als ſie bisher noch je war, denn nun ſollte ich waͤhlen, wie ich der Welt nuͤtzlich ſein und mich ſelbſt ernaͤhren wollte. Meine Wahl des mediciniſchen Studiums war mehr ein ſchneller Entſchluß als eine durch Ueberlegung auf Anregung beſtimmter Neigung getroffene Wahl. Alles, was ich gelernt hatte, lernte ich, weil ich Ge¬ ſchmack daran fand. Was ich that, that ich ohne alle Ruͤckſicht auf Belohnung, weil es mir gefiel. Dies
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einem ſagen koͤnnen, das noch in keinem Buche ſteht.
Man achtet nur das geniale Selbſtdenken und ver¬
achtet zu ſehr das zu den wirklichen Vorfaͤllen des
menſchlichen Lebens nothwendige Ausuͤben deſſen, was
man weiß, wenn es auch kein voͤllig gruͤndliches Wiſſen
iſt. Man ſetzt das Brauchbare mit dem Gemeinen in
eine Klaſſe und ſtrebt nur nach dem Bewunderns¬
wuͤrdigen, wenn es auch dem Menſchen nichts nuͤtzen
kann.
Im Jahr 1790 im Fruͤhjahr verließ mich zuerſt
mein Freund Oſterhauſen, um eine weite Reiſe zu
machen, und im Sommer darauf verließ ich auch
Wuͤrzburg. Ich reiſ'te nach Frankfurt am Main, um
die Wahl und Kroͤnung Kaiſer Leopolds zu ſehen, und
hatte davon den Nutzen, daß ich allen Geſchmack, ſol¬
chen koſtbaren Ceremonien nachzulaufen, verlor, und
ging mit reiflicherer Erwaͤgung des Spruchs: „Alles
iſt eitel,“ zuruͤck, als ich gekommen war. Meine Ge¬
muͤthsſtimmung war in dieſer Zeit trauriger, als ſie
bisher noch je war, denn nun ſollte ich waͤhlen, wie
ich der Welt nuͤtzlich ſein und mich ſelbſt ernaͤhren
wollte. Meine Wahl des mediciniſchen Studiums war
mehr ein ſchneller Entſchluß als eine durch Ueberlegung
auf Anregung beſtimmter Neigung getroffene Wahl.
Alles, was ich gelernt hatte, lernte ich, weil ich Ge¬
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Ruͤckſicht auf Belohnung, weil es mir gefiel. Dies
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/265>, abgerufen am 24.11.2024.
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