Hofrath von Siebold hielt mir Wort. Ich genoß von ihm allen Unterricht, den er ertheilte, unentgeltlich, ich ward von ihm wie ein Sohn behandelt, und er gehört unter die wenigen Personen, denen ich für ge¬ nossene Wohlthaten verpflichtet bin, und wo mir die Erinnerung derselben noch so angenehm ist, als wenn ich sie erzeigt, anstatt genossen hätte.
Zwei Jahre verlebte ich in Würzburg in einem Kreise von Jünglingen, denen es ein Ernst war, sich zu unterrichten, und dies gab unseren Freuden, die wir uns nicht versagten, die Würde verdienter und nothwendiger Erholung von unserer Anstrengung.
Durch meine Art mich zu bilden zu sehr gewohnt, den theoretischen Unterricht nur von Büchern zu em¬ pfangen, besuchte ich außer Siebold's Vorlesungen und dem praktischen Klinikum von Hofrath Wilhelmi keinen andern Lehrvortrag, sondern widmete meine Zeit der Besorgung von Patienten unter Siebold's Leitung, den Anatomien, dem Lesen, dem Nachdenken und dem Briefwechsel über wissenschaftliche Gegenstände mit mei¬ nen Freunden. Der Verkehr mit meinen Freunden milderte in etwas den nachtheiligen Einfluß, welchen das ausschließliche Lernen aus Büchern auf meinen Karakter hatte. Was man aus Büchern lernt, dafür glaubt man niemand verbindlich zu sein, es bildet sich ein stolzes Gefühl von selbsterworbenem Werthe, und man beurtheilt alle Menschen nur nach dem, was sie
Hofrath von Siebold hielt mir Wort. Ich genoß von ihm allen Unterricht, den er ertheilte, unentgeltlich, ich ward von ihm wie ein Sohn behandelt, und er gehoͤrt unter die wenigen Perſonen, denen ich fuͤr ge¬ noſſene Wohlthaten verpflichtet bin, und wo mir die Erinnerung derſelben noch ſo angenehm iſt, als wenn ich ſie erzeigt, anſtatt genoſſen haͤtte.
Zwei Jahre verlebte ich in Wuͤrzburg in einem Kreiſe von Juͤnglingen, denen es ein Ernſt war, ſich zu unterrichten, und dies gab unſeren Freuden, die wir uns nicht verſagten, die Wuͤrde verdienter und nothwendiger Erholung von unſerer Anſtrengung.
Durch meine Art mich zu bilden zu ſehr gewohnt, den theoretiſchen Unterricht nur von Buͤchern zu em¬ pfangen, beſuchte ich außer Siebold’s Vorleſungen und dem praktiſchen Klinikum von Hofrath Wilhelmi keinen andern Lehrvortrag, ſondern widmete meine Zeit der Beſorgung von Patienten unter Siebold’s Leitung, den Anatomien, dem Leſen, dem Nachdenken und dem Briefwechſel uͤber wiſſenſchaftliche Gegenſtaͤnde mit mei¬ nen Freunden. Der Verkehr mit meinen Freunden milderte in etwas den nachtheiligen Einfluß, welchen das ausſchließliche Lernen aus Buͤchern auf meinen Karakter hatte. Was man aus Buͤchern lernt, dafuͤr glaubt man niemand verbindlich zu ſein, es bildet ſich ein ſtolzes Gefuͤhl von ſelbſterworbenem Werthe, und man beurtheilt alle Menſchen nur nach dem, was ſie
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Hofrath von Siebold hielt mir Wort. Ich genoß von
ihm allen Unterricht, den er ertheilte, unentgeltlich,
ich ward von ihm wie ein Sohn behandelt, und er
gehoͤrt unter die wenigen Perſonen, denen ich fuͤr ge¬
noſſene Wohlthaten verpflichtet bin, und wo mir die
Erinnerung derſelben noch ſo angenehm iſt, als wenn
ich ſie erzeigt, anſtatt genoſſen haͤtte.
Zwei Jahre verlebte ich in Wuͤrzburg in einem
Kreiſe von Juͤnglingen, denen es ein Ernſt war, ſich
zu unterrichten, und dies gab unſeren Freuden, die
wir uns nicht verſagten, die Wuͤrde verdienter und
nothwendiger Erholung von unſerer Anſtrengung.
Durch meine Art mich zu bilden zu ſehr gewohnt,
den theoretiſchen Unterricht nur von Buͤchern zu em¬
pfangen, beſuchte ich außer Siebold’s Vorleſungen und
dem praktiſchen Klinikum von Hofrath Wilhelmi keinen
andern Lehrvortrag, ſondern widmete meine Zeit der
Beſorgung von Patienten unter Siebold’s Leitung,
den Anatomien, dem Leſen, dem Nachdenken und dem
Briefwechſel uͤber wiſſenſchaftliche Gegenſtaͤnde mit mei¬
nen Freunden. Der Verkehr mit meinen Freunden
milderte in etwas den nachtheiligen Einfluß, welchen
das ausſchließliche Lernen aus Buͤchern auf meinen
Karakter hatte. Was man aus Buͤchern lernt, dafuͤr
glaubt man niemand verbindlich zu ſein, es bildet ſich
ein ſtolzes Gefuͤhl von ſelbſterworbenem Werthe, und
man beurtheilt alle Menſchen nur nach dem, was ſie
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/264>, abgerufen am 24.11.2024.
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