mehreren Stellen von Kant's Kritik der praktischen Vernunft empfand. Thränen der höchsten Wonne stürz¬ ten mir öfters auf dies Buch, und selbst die Erinnerung dieser glücklichen Tage meines Lebens näßt jederzeit meine Augen, und richtete mich auf, wenn nachher widrige Ereignisse und eine traurige Stimmung meines Gemüths mir alle frohe Aussicht in diesem Leben ver¬ sperrten. Sollte mein Leben eine Begebenheit in der Geschichte der Menschen werden, und nicht blos ein Mittel zur Erhaltung der Menschengattung sein; werde ich ausdauern im Kampfe mit dem niederschlagenden Gedanken, den mir die Geschichte der Zeit so oft, wie ein feindseliger Dämon, in die Seele bläst: der Glaube an Entwickelung der Menschheit im Gewühle des Trei¬ bens und Thuns des Menschen ist ein Ammenmährchen, um das Kind vom Mittreiben und Mitlaufen auf der Straße des rohen Genusses abzuhalten, und ein leerer Trost über den versäumten Jubel seiner Kameraden, -- werde ich ihm widerstehen, diesem geisterdrückenden Gedanken, so ist es dein Werk, mein Lehrer, mein Vater im Geiste! Fühle ich mich nach diesem öfter wiederkehrenden Fieberanfall der Gemeinheit fortdauernd noch durch das Bewußtsein gestärkt: ich bin, der ich bin, kein Anderer hat meine Pflichten, kein Anderer darf für mich denken, die Welt, die ich anschaue, ist die Aufgabe für mein Wissen, das Gefühl der Freiheit in mir ist allein der Richter meines Werths; was ich
mehreren Stellen von Kant’s Kritik der praktiſchen Vernunft empfand. Thraͤnen der hoͤchſten Wonne ſtuͤrz¬ ten mir oͤfters auf dies Buch, und ſelbſt die Erinnerung dieſer gluͤcklichen Tage meines Lebens naͤßt jederzeit meine Augen, und richtete mich auf, wenn nachher widrige Ereigniſſe und eine traurige Stimmung meines Gemuͤths mir alle frohe Ausſicht in dieſem Leben ver¬ ſperrten. Sollte mein Leben eine Begebenheit in der Geſchichte der Menſchen werden, und nicht blos ein Mittel zur Erhaltung der Menſchengattung ſein; werde ich ausdauern im Kampfe mit dem niederſchlagenden Gedanken, den mir die Geſchichte der Zeit ſo oft, wie ein feindſeliger Daͤmon, in die Seele blaͤſt: der Glaube an Entwickelung der Menſchheit im Gewuͤhle des Trei¬ bens und Thuns des Menſchen iſt ein Ammenmaͤhrchen, um das Kind vom Mittreiben und Mitlaufen auf der Straße des rohen Genuſſes abzuhalten, und ein leerer Troſt uͤber den verſaͤumten Jubel ſeiner Kameraden, — werde ich ihm widerſtehen, dieſem geiſterdruͤckenden Gedanken, ſo iſt es dein Werk, mein Lehrer, mein Vater im Geiſte! Fuͤhle ich mich nach dieſem oͤfter wiederkehrenden Fieberanfall der Gemeinheit fortdauernd noch durch das Bewußtſein geſtaͤrkt: ich bin, der ich bin, kein Anderer hat meine Pflichten, kein Anderer darf fuͤr mich denken, die Welt, die ich anſchaue, iſt die Aufgabe fuͤr mein Wiſſen, das Gefuͤhl der Freiheit in mir iſt allein der Richter meines Werths; was ich
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mehreren Stellen von Kant’s Kritik der praktiſchen
Vernunft empfand. Thraͤnen der hoͤchſten Wonne ſtuͤrz¬
ten mir oͤfters auf dies Buch, und ſelbſt die Erinnerung
dieſer gluͤcklichen Tage meines Lebens naͤßt jederzeit
meine Augen, und richtete mich auf, wenn nachher
widrige Ereigniſſe und eine traurige Stimmung meines
Gemuͤths mir alle frohe Ausſicht in dieſem Leben ver¬
ſperrten. Sollte mein Leben eine Begebenheit in der
Geſchichte der Menſchen werden, und nicht blos ein
Mittel zur Erhaltung der Menſchengattung ſein; werde
ich ausdauern im Kampfe mit dem niederſchlagenden
Gedanken, den mir die Geſchichte der Zeit ſo oft, wie
ein feindſeliger Daͤmon, in die Seele blaͤſt: der Glaube
an Entwickelung der Menſchheit im Gewuͤhle des Trei¬
bens und Thuns des Menſchen iſt ein Ammenmaͤhrchen,
um das Kind vom Mittreiben und Mitlaufen auf der
Straße des rohen Genuſſes abzuhalten, und ein leerer
Troſt uͤber den verſaͤumten Jubel ſeiner Kameraden,
— werde ich ihm widerſtehen, dieſem geiſterdruͤckenden
Gedanken, ſo iſt es dein Werk, mein Lehrer, mein
Vater im Geiſte! Fuͤhle ich mich nach dieſem oͤfter
wiederkehrenden Fieberanfall der Gemeinheit fortdauernd
noch durch das Bewußtſein geſtaͤrkt: ich bin, der ich
bin, kein Anderer hat meine Pflichten, kein Anderer
darf fuͤr mich denken, die Welt, die ich anſchaue, iſt
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/254>, abgerufen am 24.11.2024.
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