mir von meiner zartesten Jugend an eigen war, auf sonderbare Ausschweifungen. Ein altes Buch mit Holz¬ schnitten, das die Geschichte der Heiligen der Monats¬ tage enthielt, von der ihre sich auferlegten Büßungen und die wegen ihres Glaubens erduldeten Martern im¬ mer den größten Theil ausmachten, erweckte in mir den Hang zur Selbstzüchtigung, und ich legte mir wegen der Vergehungen, deren ich mich schuldig glaubte, aller¬ lei Büßungen auf. So sehr ich mich für verbunden hielt, jede Vergehung durch körperlichen Schmerz zu büßen, so sehr war ich über die Züchtigungen, die mir einigemal von meinem Vater und in der Schule wider¬ fuhren, aufgebracht: denn ich war fest überzeugt, daß mir jedesmal unrecht geschah, und ich weinte immer mehrere Nächte darüber. Eine bigotte Erziehung hätte mich wahrscheinlich zu einem Heiligen gemacht, und ich würde den gewöhnlichen Karakter der Heiligen, sich selbst der größten Verworfenheit zu beschuldigen, und zu pre¬ digen, daß man nicht werth sei der geringsten Gnade Gottes, während man jeden, der dies einem auf's Wort glauben, und einen so behandeln wollte, für einen Ab¬ gesandten des Teufels erklärt, in seiner ganzen Stärke gezeigt haben. Diese Selbstzüchtigungen erzweckten in meinem eilften Jahre eine Empfindung in mir, die ich noch nicht hätte haben sollen, und welche, von mir gänzlich mißverstanden, die Veranlassung wurde, daß ich meine Peinigungen bis zu diesem Punkte trieb. Dies
mir von meiner zarteſten Jugend an eigen war, auf ſonderbare Ausſchweifungen. Ein altes Buch mit Holz¬ ſchnitten, das die Geſchichte der Heiligen der Monats¬ tage enthielt, von der ihre ſich auferlegten Buͤßungen und die wegen ihres Glaubens erduldeten Martern im¬ mer den groͤßten Theil ausmachten, erweckte in mir den Hang zur Selbſtzuͤchtigung, und ich legte mir wegen der Vergehungen, deren ich mich ſchuldig glaubte, aller¬ lei Buͤßungen auf. So ſehr ich mich fuͤr verbunden hielt, jede Vergehung durch koͤrperlichen Schmerz zu buͤßen, ſo ſehr war ich uͤber die Zuͤchtigungen, die mir einigemal von meinem Vater und in der Schule wider¬ fuhren, aufgebracht: denn ich war feſt uͤberzeugt, daß mir jedesmal unrecht geſchah, und ich weinte immer mehrere Naͤchte daruͤber. Eine bigotte Erziehung haͤtte mich wahrſcheinlich zu einem Heiligen gemacht, und ich wuͤrde den gewoͤhnlichen Karakter der Heiligen, ſich ſelbſt der groͤßten Verworfenheit zu beſchuldigen, und zu pre¬ digen, daß man nicht werth ſei der geringſten Gnade Gottes, waͤhrend man jeden, der dies einem auf's Wort glauben, und einen ſo behandeln wollte, fuͤr einen Ab¬ geſandten des Teufels erklaͤrt, in ſeiner ganzen Staͤrke gezeigt haben. Dieſe Selbſtzuͤchtigungen erzweckten in meinem eilften Jahre eine Empfindung in mir, die ich noch nicht haͤtte haben ſollen, und welche, von mir gaͤnzlich mißverſtanden, die Veranlaſſung wurde, daß ich meine Peinigungen bis zu dieſem Punkte trieb. Dies
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0238"n="224"/>
mir von meiner zarteſten Jugend an eigen war, auf<lb/>ſonderbare Ausſchweifungen. Ein altes Buch mit Holz¬<lb/>ſchnitten, das die Geſchichte der Heiligen der Monats¬<lb/>
tage enthielt, von der ihre ſich auferlegten Buͤßungen<lb/>
und die wegen ihres Glaubens erduldeten Martern im¬<lb/>
mer den groͤßten Theil ausmachten, erweckte in mir den<lb/>
Hang zur Selbſtzuͤchtigung, und ich legte mir wegen<lb/>
der Vergehungen, deren ich mich ſchuldig glaubte, aller¬<lb/>
lei Buͤßungen auf. So ſehr ich mich fuͤr verbunden<lb/>
hielt, jede Vergehung durch koͤrperlichen Schmerz zu<lb/>
buͤßen, ſo ſehr war ich uͤber die Zuͤchtigungen, die mir<lb/>
einigemal von meinem Vater und in der Schule wider¬<lb/>
fuhren, aufgebracht: denn ich war feſt uͤberzeugt, daß<lb/>
mir jedesmal unrecht geſchah, und ich weinte immer<lb/>
mehrere Naͤchte daruͤber. Eine bigotte Erziehung haͤtte<lb/>
mich wahrſcheinlich zu einem Heiligen gemacht, und ich<lb/>
wuͤrde den gewoͤhnlichen Karakter der Heiligen, ſich ſelbſt<lb/>
der groͤßten Verworfenheit zu beſchuldigen, und zu pre¬<lb/>
digen, daß man nicht werth ſei der geringſten Gnade<lb/>
Gottes, waͤhrend man jeden, der dies einem auf's Wort<lb/>
glauben, und einen ſo behandeln wollte, fuͤr einen Ab¬<lb/>
geſandten des Teufels erklaͤrt, in ſeiner ganzen Staͤrke<lb/>
gezeigt haben. Dieſe Selbſtzuͤchtigungen erzweckten in<lb/>
meinem eilften Jahre eine Empfindung in mir, die ich<lb/>
noch nicht haͤtte haben ſollen, und welche, von mir<lb/>
gaͤnzlich mißverſtanden, die Veranlaſſung wurde, daß<lb/>
ich meine Peinigungen bis zu dieſem Punkte trieb. Dies<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[224/0238]
mir von meiner zarteſten Jugend an eigen war, auf
ſonderbare Ausſchweifungen. Ein altes Buch mit Holz¬
ſchnitten, das die Geſchichte der Heiligen der Monats¬
tage enthielt, von der ihre ſich auferlegten Buͤßungen
und die wegen ihres Glaubens erduldeten Martern im¬
mer den groͤßten Theil ausmachten, erweckte in mir den
Hang zur Selbſtzuͤchtigung, und ich legte mir wegen
der Vergehungen, deren ich mich ſchuldig glaubte, aller¬
lei Buͤßungen auf. So ſehr ich mich fuͤr verbunden
hielt, jede Vergehung durch koͤrperlichen Schmerz zu
buͤßen, ſo ſehr war ich uͤber die Zuͤchtigungen, die mir
einigemal von meinem Vater und in der Schule wider¬
fuhren, aufgebracht: denn ich war feſt uͤberzeugt, daß
mir jedesmal unrecht geſchah, und ich weinte immer
mehrere Naͤchte daruͤber. Eine bigotte Erziehung haͤtte
mich wahrſcheinlich zu einem Heiligen gemacht, und ich
wuͤrde den gewoͤhnlichen Karakter der Heiligen, ſich ſelbſt
der groͤßten Verworfenheit zu beſchuldigen, und zu pre¬
digen, daß man nicht werth ſei der geringſten Gnade
Gottes, waͤhrend man jeden, der dies einem auf's Wort
glauben, und einen ſo behandeln wollte, fuͤr einen Ab¬
geſandten des Teufels erklaͤrt, in ſeiner ganzen Staͤrke
gezeigt haben. Dieſe Selbſtzuͤchtigungen erzweckten in
meinem eilften Jahre eine Empfindung in mir, die ich
noch nicht haͤtte haben ſollen, und welche, von mir
gaͤnzlich mißverſtanden, die Veranlaſſung wurde, daß
ich meine Peinigungen bis zu dieſem Punkte trieb. Dies
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/238>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.