ständigkeit seines eigenthümlichen Wesens erscheinen mußte, wenn nicht das ganze Bild zur Unwahrheit verschoben werden sollte; denn eine große Mannigfaltigkeit zusam¬ menhängender Züge läßt sich nicht durch wenige allge¬ meine Umrisse wiedergeben, und ein Karakter, der nach allen Seiten hin stark ausgedrückt ist, sich nicht blos von einer oder zweien Seiten genügend auffassen. Hiezu kommt, daß diesem Manne selbst die Wahrheit über alles ging, und daß es zu seinen Ehren und in seinem Sinne verfahren heißt, manche seiner Züge nicht um deßwillen, weil sie ihn vielleicht in den Augen manches Beschauers weniger günstig erscheinen lassen, sofort zu unterdrücken. Die Schmeichelei der Verschweigung ist hier nicht besser, als die der Andichtung; möge der Mensch sich zeigen, wie er gewesen, das ist auch im schlimmen Falle noch Vortheil genug, denn für den liebevollen Menschenkenner vermindern die Fehler und Schwächen des Menschen nicht dessen Werth, sondern dieser wird ihm nur gehoben durch jene, indem sie als Hindernisse zu betrachten sind, trotz deren er dennoch dahin gediehen, wo wir ihn wahrnehmen. Diesemnach hat mich die feige Angst mancher Ueberzarten wenig bekümmern können, denen der Schein zur Hauptsache des Lebens wird, und die jedes Persönliche als ein Heiligthum gehalten wissen wollen, damit nur ihre eigne Jämmerlichkeit hinter der gleißnerischen Decke wohlge¬ hegt bleibe. Solchen Leuten alle Anstößigkeit erspart
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ſtaͤndigkeit ſeines eigenthuͤmlichen Weſens erſcheinen mußte, wenn nicht das ganze Bild zur Unwahrheit verſchoben werden ſollte; denn eine große Mannigfaltigkeit zuſam¬ menhaͤngender Zuͤge laͤßt ſich nicht durch wenige allge¬ meine Umriſſe wiedergeben, und ein Karakter, der nach allen Seiten hin ſtark ausgedruͤckt iſt, ſich nicht blos von einer oder zweien Seiten genuͤgend auffaſſen. Hiezu kommt, daß dieſem Manne ſelbſt die Wahrheit uͤber alles ging, und daß es zu ſeinen Ehren und in ſeinem Sinne verfahren heißt, manche ſeiner Zuͤge nicht um deßwillen, weil ſie ihn vielleicht in den Augen manches Beſchauers weniger guͤnſtig erſcheinen laſſen, ſofort zu unterdruͤcken. Die Schmeichelei der Verſchweigung iſt hier nicht beſſer, als die der Andichtung; moͤge der Menſch ſich zeigen, wie er geweſen, das iſt auch im ſchlimmen Falle noch Vortheil genug, denn fuͤr den liebevollen Menſchenkenner vermindern die Fehler und Schwaͤchen des Menſchen nicht deſſen Werth, ſondern dieſer wird ihm nur gehoben durch jene, indem ſie als Hinderniſſe zu betrachten ſind, trotz deren er dennoch dahin gediehen, wo wir ihn wahrnehmen. Dieſemnach hat mich die feige Angſt mancher Ueberzarten wenig bekuͤmmern koͤnnen, denen der Schein zur Hauptſache des Lebens wird, und die jedes Perſoͤnliche als ein Heiligthum gehalten wiſſen wollen, damit nur ihre eigne Jaͤmmerlichkeit hinter der gleißneriſchen Decke wohlge¬ hegt bleibe. Solchen Leuten alle Anſtoͤßigkeit erſpart
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ſtaͤndigkeit ſeines eigenthuͤmlichen Weſens erſcheinen mußte,
wenn nicht das ganze Bild zur Unwahrheit verſchoben
werden ſollte; denn eine große Mannigfaltigkeit zuſam¬
menhaͤngender Zuͤge laͤßt ſich nicht durch wenige allge¬
meine Umriſſe wiedergeben, und ein Karakter, der nach
allen Seiten hin ſtark ausgedruͤckt iſt, ſich nicht blos
von einer oder zweien Seiten genuͤgend auffaſſen. Hiezu
kommt, daß dieſem Manne ſelbſt die Wahrheit uͤber
alles ging, und daß es zu ſeinen Ehren und in ſeinem
Sinne verfahren heißt, manche ſeiner Zuͤge nicht um
deßwillen, weil ſie ihn vielleicht in den Augen manches
Beſchauers weniger guͤnſtig erſcheinen laſſen, ſofort zu
unterdruͤcken. Die Schmeichelei der Verſchweigung iſt
hier nicht beſſer, als die der Andichtung; moͤge der
Menſch ſich zeigen, wie er geweſen, das iſt auch im
ſchlimmen Falle noch Vortheil genug, denn fuͤr den
liebevollen Menſchenkenner vermindern die Fehler und
Schwaͤchen des Menſchen nicht deſſen Werth, ſondern
dieſer wird ihm nur gehoben durch jene, indem ſie als
Hinderniſſe zu betrachten ſind, trotz deren er dennoch
dahin gediehen, wo wir ihn wahrnehmen. Dieſemnach
hat mich die feige Angſt mancher Ueberzarten wenig
bekuͤmmern koͤnnen, denen der Schein zur Hauptſache
des Lebens wird, und die jedes Perſoͤnliche als ein
Heiligthum gehalten wiſſen wollen, damit nur ihre eigne
Jaͤmmerlichkeit hinter der gleißneriſchen Decke wohlge¬
hegt bleibe. Solchen Leuten alle Anſtoͤßigkeit erſpart
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/223>, abgerufen am 26.11.2024.
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