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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835.

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Fragmente z. Gesetzlehre der individuellen Entwickelung.
Uridee des Thieres auf gleiche Weise involvirt. Dort wird die
grösste Mannigfaltigkeit, hier concrete Einheit erstrebt.

Der Keim jedes thierischen Wesens ist von seinem ersten
Momente an eben so bestimmt individuell, als zu jeder späteren
Zeit. Die Annahme, dass der Embryo der höheren Thiere die
Stufen der niederen Thierwelt durchlaufe, wäre daher dem Satze
völlig gleichzustellen, dass das thierische Individuum zu einer be-
stimmten Zeit seine Individualität ablegen und mit der eines an-
deren individuellen Wesens vertauschen könnte, welche Annahme
aber seine ganze Existenz als bestimmt Concretes aufheben würde.
Auch lässt sich, wie v. Bär schon treffend bemerkt hat, der Satz,
dass der Embryo der höheren Thiere die Stufen der niederen
Thierwelt durchlaufen müsse, ohne die irrthümliche Ansicht einer
einfachen aufsteigenden Kette der Wesen nicht denken. Es ist
zwar nicht zu läugnen, dass bei oberflächlicher Betrachtung ge-
wisse frappante Aehnlichkeiten für diese Ansicht zu sprechen
scheinen, wie die Genese des Herzens und der grossen Gefäss-
stämme, die Bildungsgeschichte des Gehirnes, des Skelettes, die
Anwesenheit eines Kiemengerüstes u. dgl. mehr. Allein bei ei-
ner schon etwas genaueren Betrachtung müssen selbst die eifrig-
sten Anhänger der besprochenen Meinung zugeben, dass die Ue-
bereinstimmung im Ganzen unvollkommen und stets durch ge-
wisse Verhältnisse modificirt sey. Schon der grosse Meckel be-
merkte dieses und seinen Grund, dass in der Welt der Sinnlich-
keit nur Individualitäten, Einzelnheiten und Verschiedenheiten
existiren, wenn auch die in ihnen liegende Uridee etwas Identi-
sches an ihnen erzeugt. Diese aber wird immer specieller, je
mehr die Entwickelung vorschreitet. So hat der Keim des Hühn-
chens z. B. zwar von Anfang an die Tendenz zur Darstellung
des speciellen Hühnchens in sich, und ist daher schon von jeder
bestimmten, fremden Individualität durchaus geschieden. Allein
anderseits muss es die verschiedenen Urideen durch immer grö-
ssere Specialisirungen sich aneignen, gleichsam in Kampf für sie
treten und jede einzelne derselben sich erringen. Daher wird 1.
in frühesten Entwickelungszuständen, wo die einzelne Individua-
lität vor dem concret allgemeinen Charakter weniger hervortritt,
dem ersten Blicke nach die Uridee in den verschiedenen speciali-
sirenden Verhältnissen deutlicher zu erkennen seyn. 2. Diese
wird aber mit dem Zuwachse der Individualitätscharaktere immer

mehr

Fragmente z. Gesetzlehre der individuellen Entwickelung.
Uridee des Thieres auf gleiche Weise involvirt. Dort wird die
gröſste Mannigfaltigkeit, hier concrete Einheit erstrebt.

Der Keim jedes thierischen Wesens ist von seinem ersten
Momente an eben so bestimmt individuell, als zu jeder späteren
Zeit. Die Annahme, daſs der Embryo der höheren Thiere die
Stufen der niederen Thierwelt durchlaufe, wäre daher dem Satze
völlig gleichzustellen, daſs das thierische Individuum zu einer be-
stimmten Zeit seine Individualität ablegen und mit der eines an-
deren individuellen Wesens vertauschen könnte, welche Annahme
aber seine ganze Existenz als bestimmt Concretes aufheben würde.
Auch läſst sich, wie v. Bär schon treffend bemerkt hat, der Satz,
daſs der Embryo der höheren Thiere die Stufen der niederen
Thierwelt durchlaufen müsse, ohne die irrthümliche Ansicht einer
einfachen aufsteigenden Kette der Wesen nicht denken. Es ist
zwar nicht zu läugnen, daſs bei oberflächlicher Betrachtung ge-
wisse frappante Aehnlichkeiten für diese Ansicht zu sprechen
scheinen, wie die Genese des Herzens und der groſsen Gefäſs-
stämme, die Bildungsgeschichte des Gehirnes, des Skelettes, die
Anwesenheit eines Kiemengerüstes u. dgl. mehr. Allein bei ei-
ner schon etwas genaueren Betrachtung müssen selbst die eifrig-
sten Anhänger der besprochenen Meinung zugeben, daſs die Ue-
bereinstimmung im Ganzen unvollkommen und stets durch ge-
wisse Verhältnisse modificirt sey. Schon der groſse Meckel be-
merkte dieses und seinen Grund, daſs in der Welt der Sinnlich-
keit nur Individualitäten, Einzelnheiten und Verschiedenheiten
existiren, wenn auch die in ihnen liegende Uridee etwas Identi-
sches an ihnen erzeugt. Diese aber wird immer specieller, je
mehr die Entwickelung vorschreitet. So hat der Keim des Hühn-
chens z. B. zwar von Anfang an die Tendenz zur Darstellung
des speciellen Hühnchens in sich, und ist daher schon von jeder
bestimmten, fremden Individualität durchaus geschieden. Allein
anderseits muſs es die verschiedenen Urideen durch immer grö-
ſsere Specialisirungen sich aneignen, gleichsam in Kampf für sie
treten und jede einzelne derselben sich erringen. Daher wird 1.
in frühesten Entwickelungszuständen, wo die einzelne Individua-
lität vor dem concret allgemeinen Charakter weniger hervortritt,
dem ersten Blicke nach die Uridee in den verschiedenen speciali-
sirenden Verhältnissen deutlicher zu erkennen seyn. 2. Diese
wird aber mit dem Zuwachse der Individualitätscharaktere immer

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[592/0620] Fragmente z. Gesetzlehre der individuellen Entwickelung. Uridee des Thieres auf gleiche Weise involvirt. Dort wird die gröſste Mannigfaltigkeit, hier concrete Einheit erstrebt. Der Keim jedes thierischen Wesens ist von seinem ersten Momente an eben so bestimmt individuell, als zu jeder späteren Zeit. Die Annahme, daſs der Embryo der höheren Thiere die Stufen der niederen Thierwelt durchlaufe, wäre daher dem Satze völlig gleichzustellen, daſs das thierische Individuum zu einer be- stimmten Zeit seine Individualität ablegen und mit der eines an- deren individuellen Wesens vertauschen könnte, welche Annahme aber seine ganze Existenz als bestimmt Concretes aufheben würde. Auch läſst sich, wie v. Bär schon treffend bemerkt hat, der Satz, daſs der Embryo der höheren Thiere die Stufen der niederen Thierwelt durchlaufen müsse, ohne die irrthümliche Ansicht einer einfachen aufsteigenden Kette der Wesen nicht denken. Es ist zwar nicht zu läugnen, daſs bei oberflächlicher Betrachtung ge- wisse frappante Aehnlichkeiten für diese Ansicht zu sprechen scheinen, wie die Genese des Herzens und der groſsen Gefäſs- stämme, die Bildungsgeschichte des Gehirnes, des Skelettes, die Anwesenheit eines Kiemengerüstes u. dgl. mehr. Allein bei ei- ner schon etwas genaueren Betrachtung müssen selbst die eifrig- sten Anhänger der besprochenen Meinung zugeben, daſs die Ue- bereinstimmung im Ganzen unvollkommen und stets durch ge- wisse Verhältnisse modificirt sey. Schon der groſse Meckel be- merkte dieses und seinen Grund, daſs in der Welt der Sinnlich- keit nur Individualitäten, Einzelnheiten und Verschiedenheiten existiren, wenn auch die in ihnen liegende Uridee etwas Identi- sches an ihnen erzeugt. Diese aber wird immer specieller, je mehr die Entwickelung vorschreitet. So hat der Keim des Hühn- chens z. B. zwar von Anfang an die Tendenz zur Darstellung des speciellen Hühnchens in sich, und ist daher schon von jeder bestimmten, fremden Individualität durchaus geschieden. Allein anderseits muſs es die verschiedenen Urideen durch immer grö- ſsere Specialisirungen sich aneignen, gleichsam in Kampf für sie treten und jede einzelne derselben sich erringen. Daher wird 1. in frühesten Entwickelungszuständen, wo die einzelne Individua- lität vor dem concret allgemeinen Charakter weniger hervortritt, dem ersten Blicke nach die Uridee in den verschiedenen speciali- sirenden Verhältnissen deutlicher zu erkennen seyn. 2. Diese wird aber mit dem Zuwachse der Individualitätscharaktere immer mehr

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Zitationshilfe: Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/620>, abgerufen am 23.11.2024.