gänzlich mangelt. Passt diese Beschreibung nicht Wort für Wort auch auf das Eichen der Säugethiere? Die Gleichheit ergiebt sich hier ganz und gar von selbst, und wir sprechen daher den durch sichere Beobachtung constatirten Satz aus:
Das Ei der Säugethiere gleicht vollkommen dem unausge- bildeten Eie des Vogels, unterscheidet sich aber von die- sem, sobald die wahren Dotterkugeln in ihm erschienen sind, wesentlich.
Es versteht sich aber von selbst, dass hier von vollkomme- ner Identität nicht die Rede seyn kann, da schon die Verschie- denheiten der Individualitäten der Säugethiere und Vögel eine solche unmöglich machen. So variiren z. B. die in dem Eichen der Säugethiere enthaltenen Körperchen weit mehr, als die in den frühesten Formen des Vogeleies enthaltenen. Dass aber die Natur bei der Bildung der beiden Eiformen die oben bezeichnete Uridee befolgt habe, leidet keinen Zweifel.
Wenn es sich nun so ergeben hat, dass das Eichen der Säu- gethiere gleichsam ein unausgebildetes oder in dem frühesten Sta- dium der Entwickelung befindliches Vogelei sey, so steht dieses mit der ganzen Evolution des Säugethieres in vollkommener Ue- bereinstimmung. Wir werden es in der Folge sehen, dass und weshalb der Dotter der Vögel eine so bedeutende, der der Säu- gethiere eine mehr untergeordnete Rolle spiele. Die so unge- heure Differenz der Ausbildung desselben Organes in den beiden verschiedenen Thierklassen findet durch unsere Darstellung seine erste, sichere, morphologische Begründung, indem wir nachgewie- sen haben, dass das Eichen der Säugethiere auf einer Stufe der Ausbildung stehen bleibt, welche der Dotter des Vogels von ziemlich früher Zeit an überschreitet und hinter sich lässt.
Dagegen zeigt sich in den Säugethieren und dem Menschen eine eigenthümliche, in keiner anderen Thierklasse vorkommende Formation, nämlich die, dass das wahre Eichen in einem anderen eiförmigen Körper, dem Folliculus, eingeschlossen ist. Die Func- tion dieses Theiles ist in der That räthselhaft. Doch könnte man seine Bedeutung vielleicht darin suchen, dass bei den Säu- gethieren die Idee der inneren Brütung so weit ausgedehnt wird, dass selbst das Eichen in dem Eierstocke in einer der Mutter an- gehörenden Bildung besonders eingeschlossen und aufbewahrt werde. Denn dass der Folliculus und sein Contentum von sehr
Ei der Säugethiere.
gänzlich mangelt. Paſst diese Beschreibung nicht Wort für Wort auch auf das Eichen der Säugethiere? Die Gleichheit ergiebt sich hier ganz und gar von selbst, und wir sprechen daher den durch sichere Beobachtung constatirten Satz aus:
Das Ei der Säugethiere gleicht vollkommen dem unausge- bildeten Eie des Vogels, unterscheidet sich aber von die- sem, sobald die wahren Dotterkugeln in ihm erschienen sind, wesentlich.
Es versteht sich aber von selbst, daſs hier von vollkomme- ner Identität nicht die Rede seyn kann, da schon die Verschie- denheiten der Individualitäten der Säugethiere und Vögel eine solche unmöglich machen. So variiren z. B. die in dem Eichen der Säugethiere enthaltenen Körperchen weit mehr, als die in den frühesten Formen des Vogeleies enthaltenen. Daſs aber die Natur bei der Bildung der beiden Eiformen die oben bezeichnete Uridee befolgt habe, leidet keinen Zweifel.
Wenn es sich nun so ergeben hat, daſs das Eichen der Säu- gethiere gleichsam ein unausgebildetes oder in dem frühesten Sta- dium der Entwickelung befindliches Vogelei sey, so steht dieses mit der ganzen Evolution des Säugethieres in vollkommener Ue- bereinstimmung. Wir werden es in der Folge sehen, daſs und weshalb der Dotter der Vögel eine so bedeutende, der der Säu- gethiere eine mehr untergeordnete Rolle spiele. Die so unge- heure Differenz der Ausbildung desselben Organes in den beiden verschiedenen Thierklassen findet durch unsere Darstellung seine erste, sichere, morphologische Begründung, indem wir nachgewie- sen haben, daſs das Eichen der Säugethiere auf einer Stufe der Ausbildung stehen bleibt, welche der Dotter des Vogels von ziemlich früher Zeit an überschreitet und hinter sich läſst.
Dagegen zeigt sich in den Säugethieren und dem Menschen eine eigenthümliche, in keiner anderen Thierklasse vorkommende Formation, nämlich die, daſs das wahre Eichen in einem anderen eiförmigen Körper, dem Folliculus, eingeschlossen ist. Die Func- tion dieses Theiles ist in der That räthselhaft. Doch könnte man seine Bedeutung vielleicht darin suchen, daſs bei den Säu- gethieren die Idee der inneren Brütung so weit ausgedehnt wird, daſs selbst das Eichen in dem Eierstocke in einer der Mutter an- gehörenden Bildung besonders eingeschlossen und aufbewahrt werde. Denn daſs der Folliculus und sein Contentum von sehr
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Ei der Säugethiere.
gänzlich mangelt. Paſst diese Beschreibung nicht Wort für Wort
auch auf das Eichen der Säugethiere? Die Gleichheit ergiebt
sich hier ganz und gar von selbst, und wir sprechen daher den
durch sichere Beobachtung constatirten Satz aus:
Das Ei der Säugethiere gleicht vollkommen dem unausge-
bildeten Eie des Vogels, unterscheidet sich aber von die-
sem, sobald die wahren Dotterkugeln in ihm erschienen
sind, wesentlich.
Es versteht sich aber von selbst, daſs hier von vollkomme-
ner Identität nicht die Rede seyn kann, da schon die Verschie-
denheiten der Individualitäten der Säugethiere und Vögel eine
solche unmöglich machen. So variiren z. B. die in dem Eichen
der Säugethiere enthaltenen Körperchen weit mehr, als die in
den frühesten Formen des Vogeleies enthaltenen. Daſs aber die
Natur bei der Bildung der beiden Eiformen die oben bezeichnete
Uridee befolgt habe, leidet keinen Zweifel.
Wenn es sich nun so ergeben hat, daſs das Eichen der Säu-
gethiere gleichsam ein unausgebildetes oder in dem frühesten Sta-
dium der Entwickelung befindliches Vogelei sey, so steht dieses
mit der ganzen Evolution des Säugethieres in vollkommener Ue-
bereinstimmung. Wir werden es in der Folge sehen, daſs und
weshalb der Dotter der Vögel eine so bedeutende, der der Säu-
gethiere eine mehr untergeordnete Rolle spiele. Die so unge-
heure Differenz der Ausbildung desselben Organes in den beiden
verschiedenen Thierklassen findet durch unsere Darstellung seine
erste, sichere, morphologische Begründung, indem wir nachgewie-
sen haben, daſs das Eichen der Säugethiere auf einer Stufe der
Ausbildung stehen bleibt, welche der Dotter des Vogels von
ziemlich früher Zeit an überschreitet und hinter sich läſst.
Dagegen zeigt sich in den Säugethieren und dem Menschen
eine eigenthümliche, in keiner anderen Thierklasse vorkommende
Formation, nämlich die, daſs das wahre Eichen in einem anderen
eiförmigen Körper, dem Folliculus, eingeschlossen ist. Die Func-
tion dieses Theiles ist in der That räthselhaft. Doch könnte
man seine Bedeutung vielleicht darin suchen, daſs bei den Säu-
gethieren die Idee der inneren Brütung so weit ausgedehnt wird,
daſs selbst das Eichen in dem Eierstocke in einer der Mutter an-
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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/55>, abgerufen am 22.11.2024.
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