B. Geschichte der keimbereitenden und ausführenden inneren Geschlechtsorgane überhaupt bis zu der Zeit, wo die Verschiedenheit des Geschlechtes mehr unmit- telbar in die Augen fallende Differenzen bedingt.
Man hat oft mit mehr oder minder Bestimmtheit und Gründlich- keit die Ansicht ausgesprochen und vertheidigt, dass in frühester Zeit die spätere Geschlechtsdifferenz ganz und gar mangele. Die Frage ist für das ganze Gebiet der Physiologie zu wichtig, als dass wir hier am Eingange der Genese der Geschlechtstheile nicht hierauf Rücksicht nehmen sollten. Man kann aber hier, wie es sich auch geschichtlich nachweisen lässt, drei Modificationen der Meinungen annehmen, nämlich 1. dass in frühester Zeit alle Spur einer Ge- schlechtsverschiedenheit an dem ganzen Körper mangele; 2. dass zwar keine Differenz in den Geschlechtstheilen, eine solche aber an dem Totalhabitus des Körpers vorkomme, und 3. dass von An- fang an jedes Individuum in seinem Geschlechte genau bestimmt und individualisirt sey. Die erste Ansicht wird schon durch Sömmerings Erfahrung widerlegt, dass bei menschlichen Embryo- nen schon in der achten Woche die Brust bei dem Weibchen kürzer und weiter, bei den Männern aber länger und enger sey. Diese Unterschiede sprechen sich aus gleiche Weise mehr oder minder auch an den übrigen Theilen des Körpers aus. Dass die Differenz in den Geschlechtstheilen selbst später, und auf welche Weise sie hervortrete, werden wir bald zu erwähnen Gelegenheit haben. In Rücksicht der beiden anderen Ansichten aber können wir nur dasjenige, was der treffliche Burdach (Physiol. II. S. 577.) hierüber sagt, wörtlich unterschreiben: "Nun fragt es sich aber," heisst es bei ihm, "wann und wodurch entsteht die Geschlecht- lichkeit? Es sind hier zwei Fälle möglich: Der Embryo ist ent- weder eine Zeit lang absolut geschlechtlos und wird, da er den Grund der Geschlechtlichkeit nicht in sich selbst enthält, wäh- rend seiner weiteren Entwickelung durch ein äusseres Moment zur Geschlechtsverschiedenheit determinirt, oder er hat von sei- nem ersten Ursprunge an eine bestimmte Richtung seines Daseins auch in Hinsicht auf die Geschlechtlichkeit in sich, die aber erst späterhin in der Erscheinung hervortritt, so dass die anfängliche Indifferenz der Zeugungsorgane zwar thatsächlich, aber nur Er-
Von dem Embryo.
B. Geschichte der keimbereitenden und ausführenden inneren Geschlechtsorgane überhaupt bis zu der Zeit, wo die Verschiedenheit des Geschlechtes mehr unmit- telbar in die Augen fallende Differenzen bedingt.
Man hat oft mit mehr oder minder Bestimmtheit und Gründlich- keit die Ansicht ausgesprochen und vertheidigt, daſs in frühester Zeit die spätere Geschlechtsdifferenz ganz und gar mangele. Die Frage ist für das ganze Gebiet der Physiologie zu wichtig, als daſs wir hier am Eingange der Genese der Geschlechtstheile nicht hierauf Rücksicht nehmen sollten. Man kann aber hier, wie es sich auch geschichtlich nachweisen läſst, drei Modificationen der Meinungen annehmen, nämlich 1. daſs in frühester Zeit alle Spur einer Ge- schlechtsverschiedenheit an dem ganzen Körper mangele; 2. daſs zwar keine Differenz in den Geschlechtstheilen, eine solche aber an dem Totalhabitus des Körpers vorkomme, und 3. daſs von An- fang an jedes Individuum in seinem Geschlechte genau bestimmt und individualisirt sey. Die erste Ansicht wird schon durch Sömmerings Erfahrung widerlegt, daſs bei menschlichen Embryo- nen schon in der achten Woche die Brust bei dem Weibchen kürzer und weiter, bei den Männern aber länger und enger sey. Diese Unterschiede sprechen sich aus gleiche Weise mehr oder minder auch an den übrigen Theilen des Körpers aus. Daſs die Differenz in den Geschlechtstheilen selbst später, und auf welche Weise sie hervortrete, werden wir bald zu erwähnen Gelegenheit haben. In Rücksicht der beiden anderen Ansichten aber können wir nur dasjenige, was der treffliche Burdach (Physiol. II. S. 577.) hierüber sagt, wörtlich unterschreiben: „Nun fragt es sich aber,“ heiſst es bei ihm, „wann und wodurch entsteht die Geschlecht- lichkeit? Es sind hier zwei Fälle möglich: Der Embryo ist ent- weder eine Zeit lang absolut geschlechtlos und wird, da er den Grund der Geschlechtlichkeit nicht in sich selbst enthält, wäh- rend seiner weiteren Entwickelung durch ein äuſseres Moment zur Geschlechtsverschiedenheit determinirt, oder er hat von sei- nem ersten Ursprunge an eine bestimmte Richtung seines Daseins auch in Hinsicht auf die Geschlechtlichkeit in sich, die aber erst späterhin in der Erscheinung hervortritt, so daſs die anfängliche Indifferenz der Zeugungsorgane zwar thatsächlich, aber nur Er-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0414"n="386"/><fwplace="top"type="header">Von dem Embryo.</fw><lb/><divn="4"><head>B. <hirendition="#g">Geschichte der keimbereitenden und ausführenden<lb/>
inneren Geschlechtsorgane überhaupt bis zu der Zeit,<lb/>
wo die Verschiedenheit des Geschlechtes mehr unmit-<lb/>
telbar in die Augen fallende Differenzen bedingt</hi>.</head><lb/><p>Man hat oft mit mehr oder minder Bestimmtheit und Gründlich-<lb/>
keit die Ansicht ausgesprochen und vertheidigt, daſs in frühester Zeit<lb/>
die spätere Geschlechtsdifferenz ganz und gar mangele. Die Frage ist<lb/>
für das ganze Gebiet der Physiologie zu wichtig, als daſs wir<lb/>
hier am Eingange der Genese der Geschlechtstheile nicht hierauf<lb/>
Rücksicht nehmen sollten. Man kann aber hier, wie es sich auch<lb/>
geschichtlich nachweisen läſst, drei Modificationen der Meinungen<lb/>
annehmen, nämlich 1. daſs in frühester Zeit alle Spur einer Ge-<lb/>
schlechtsverschiedenheit an dem ganzen Körper mangele; 2. daſs<lb/>
zwar keine Differenz in den Geschlechtstheilen, eine solche aber<lb/>
an dem Totalhabitus des Körpers vorkomme, und 3. daſs von An-<lb/>
fang an jedes Individuum in seinem Geschlechte genau bestimmt<lb/>
und individualisirt sey. Die erste Ansicht wird schon durch<lb/>
Sömmerings Erfahrung widerlegt, daſs bei menschlichen Embryo-<lb/>
nen schon in der achten Woche die Brust bei dem Weibchen<lb/>
kürzer und weiter, bei den Männern aber länger und enger sey.<lb/>
Diese Unterschiede sprechen sich aus gleiche Weise mehr oder<lb/>
minder auch an den übrigen Theilen des Körpers aus. Daſs die<lb/>
Differenz in den Geschlechtstheilen selbst später, und auf welche<lb/>
Weise sie hervortrete, werden wir bald zu erwähnen Gelegenheit<lb/>
haben. In Rücksicht der beiden anderen Ansichten aber können wir<lb/>
nur dasjenige, was der treffliche Burdach (Physiol. II. S. 577.)<lb/>
hierüber sagt, wörtlich unterschreiben: „Nun fragt es sich aber,“<lb/>
heiſst es bei ihm, „wann und wodurch entsteht die Geschlecht-<lb/>
lichkeit? Es sind hier zwei Fälle möglich: Der Embryo ist ent-<lb/>
weder eine Zeit lang absolut geschlechtlos und wird, da er den<lb/>
Grund der Geschlechtlichkeit nicht in sich selbst enthält, wäh-<lb/>
rend seiner weiteren Entwickelung durch ein äuſseres Moment<lb/>
zur Geschlechtsverschiedenheit determinirt, oder er hat von sei-<lb/>
nem ersten Ursprunge an eine bestimmte Richtung seines Daseins<lb/>
auch in Hinsicht auf die Geschlechtlichkeit in sich, die aber erst<lb/>
späterhin in der Erscheinung hervortritt, so daſs die anfängliche<lb/>
Indifferenz der Zeugungsorgane zwar thatsächlich, aber nur Er-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[386/0414]
Von dem Embryo.
B. Geschichte der keimbereitenden und ausführenden
inneren Geschlechtsorgane überhaupt bis zu der Zeit,
wo die Verschiedenheit des Geschlechtes mehr unmit-
telbar in die Augen fallende Differenzen bedingt.
Man hat oft mit mehr oder minder Bestimmtheit und Gründlich-
keit die Ansicht ausgesprochen und vertheidigt, daſs in frühester Zeit
die spätere Geschlechtsdifferenz ganz und gar mangele. Die Frage ist
für das ganze Gebiet der Physiologie zu wichtig, als daſs wir
hier am Eingange der Genese der Geschlechtstheile nicht hierauf
Rücksicht nehmen sollten. Man kann aber hier, wie es sich auch
geschichtlich nachweisen läſst, drei Modificationen der Meinungen
annehmen, nämlich 1. daſs in frühester Zeit alle Spur einer Ge-
schlechtsverschiedenheit an dem ganzen Körper mangele; 2. daſs
zwar keine Differenz in den Geschlechtstheilen, eine solche aber
an dem Totalhabitus des Körpers vorkomme, und 3. daſs von An-
fang an jedes Individuum in seinem Geschlechte genau bestimmt
und individualisirt sey. Die erste Ansicht wird schon durch
Sömmerings Erfahrung widerlegt, daſs bei menschlichen Embryo-
nen schon in der achten Woche die Brust bei dem Weibchen
kürzer und weiter, bei den Männern aber länger und enger sey.
Diese Unterschiede sprechen sich aus gleiche Weise mehr oder
minder auch an den übrigen Theilen des Körpers aus. Daſs die
Differenz in den Geschlechtstheilen selbst später, und auf welche
Weise sie hervortrete, werden wir bald zu erwähnen Gelegenheit
haben. In Rücksicht der beiden anderen Ansichten aber können wir
nur dasjenige, was der treffliche Burdach (Physiol. II. S. 577.)
hierüber sagt, wörtlich unterschreiben: „Nun fragt es sich aber,“
heiſst es bei ihm, „wann und wodurch entsteht die Geschlecht-
lichkeit? Es sind hier zwei Fälle möglich: Der Embryo ist ent-
weder eine Zeit lang absolut geschlechtlos und wird, da er den
Grund der Geschlechtlichkeit nicht in sich selbst enthält, wäh-
rend seiner weiteren Entwickelung durch ein äuſseres Moment
zur Geschlechtsverschiedenheit determinirt, oder er hat von sei-
nem ersten Ursprunge an eine bestimmte Richtung seines Daseins
auch in Hinsicht auf die Geschlechtlichkeit in sich, die aber erst
späterhin in der Erscheinung hervortritt, so daſs die anfängliche
Indifferenz der Zeugungsorgane zwar thatsächlich, aber nur Er-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/414>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.