Darstellung der Evolutionsgeschichte der Wirbelthiere muss, wenn sie nicht bloss eine trockene Aufzählung der verschiedenen Ent- wickelungszustände der Organe seyn, sondern die Rücksicht auf das Ganze immer im Auge behalten will, die Form und Lage der drei Blätter nothwendig in Betrachtung ziehen. Leider ist dies gerade bei der Untersuchung von Säugethierembryonen nur sehr wenig, von menschlichen dagegen noch gar nicht berück- sichtigt worden. Der Grund des Letzteren liegt theils darin, dass man diese Distinction erst in der neuesten Zeit kennen gelernt, theils darin, dass man nur in höchst seltenen Fällen Früchte zu untersuchen Gelegenheit hat, in welcher die verschieden entwik- kelten Theile der drei Blätter als Urtypen für die folgenden Zei- ten sich noch darstellen. Die aller Wahrscheinlichkeit nach in ge- wissen Grenzen richtige Analogie mit dem Vogelembryo kann und muss auf diesem dunkelen Gebiete leiten.
Das seröse Blatt giebt den sogenannten animalen Orga- nen und Hilfsorganen ihre Entstehung d. h. Hirn, Rückenmark, Sinnen, Haut, Muskeln, Sehnen, Bändern, Knorpeln und Knochen; das Schleimblatt den vegetativen d. h. Darmkanal, Lungen, Leber, Milz, Pankreas u. a. Drüsen. Herz und Gefässsystem entstehen aus dem Gefässblatte, wenn dieses als ein gesondertes Blatt an- zunehmen ist. Welchen Platz die Geschlechtstheile einnehmen, ob sie dem Schleim- oder dem Gefässblatte angehören, ist zur Zeit noch ungewiss. Rathke hält es für wahrscheinlich, dass sie aus dem Gefässblatte entstehen. Näheres hierüber siehe unten bei diesen selbst. -- Ehe wir nun die Metamorphosen der ein- zelnen Blätter gesondert durchgehen, müssen wir zuvor die Ver- änderungen, welche in Folge der Befruchtung in der Fruchtan- lage überhaupt sich ereignen, als die ersten Schritte zur Bildung eines neuen individuellen Wesens, kürzlich betrachten.
Die Wirkungen desjenigen, was wir nach der Analogie Cas- par Fr. Wolffs eigene oder wesentliche Kraft (vis essentialis) nennen, ist hier die Veränderung des als Urrudiment gegebenen Stoffes in die zur individuellen Ausbildung nöthigen Formen und Gestalten. Die gleichmässig aus Körnern und einem zähen Bindemit- tel bestehende und nur in der Dimension der Dicke etwas ungleiche Fruchtanlage sondert sich in verschiedene, sowohl dem Aeusseren nach different gebildete, als der Masse nach mehr gleichmässig flüs- sige und gleichmässig feste Theile. Die Beobachtung dieses Urvor-
Von dem Embryo.
Darstellung der Evolutionsgeschichte der Wirbelthiere muſs, wenn sie nicht bloſs eine trockene Aufzählung der verschiedenen Ent- wickelungszustände der Organe seyn, sondern die Rücksicht auf das Ganze immer im Auge behalten will, die Form und Lage der drei Blätter nothwendig in Betrachtung ziehen. Leider ist dies gerade bei der Untersuchung von Säugethierembryonen nur sehr wenig, von menschlichen dagegen noch gar nicht berück- sichtigt worden. Der Grund des Letzteren liegt theils darin, daſs man diese Distinction erst in der neuesten Zeit kennen gelernt, theils darin, daſs man nur in höchst seltenen Fällen Früchte zu untersuchen Gelegenheit hat, in welcher die verschieden entwik- kelten Theile der drei Blätter als Urtypen für die folgenden Zei- ten sich noch darstellen. Die aller Wahrscheinlichkeit nach in ge- wissen Grenzen richtige Analogie mit dem Vogelembryo kann und muſs auf diesem dunkelen Gebiete leiten.
Das seröse Blatt giebt den sogenannten animalen Orga- nen und Hilfsorganen ihre Entstehung d. h. Hirn, Rückenmark, Sinnen, Haut, Muskeln, Sehnen, Bändern, Knorpeln und Knochen; das Schleimblatt den vegetativen d. h. Darmkanal, Lungen, Leber, Milz, Pankreas u. a. Drüsen. Herz und Gefäſssystem entstehen aus dem Gefäſsblatte, wenn dieses als ein gesondertes Blatt an- zunehmen ist. Welchen Platz die Geschlechtstheile einnehmen, ob sie dem Schleim- oder dem Gefäſsblatte angehören, ist zur Zeit noch ungewiſs. Rathke hält es für wahrscheinlich, daſs sie aus dem Gefäſsblatte entstehen. Näheres hierüber siehe unten bei diesen selbst. — Ehe wir nun die Metamorphosen der ein- zelnen Blätter gesondert durchgehen, müssen wir zuvor die Ver- änderungen, welche in Folge der Befruchtung in der Fruchtan- lage überhaupt sich ereignen, als die ersten Schritte zur Bildung eines neuen individuellen Wesens, kürzlich betrachten.
Die Wirkungen desjenigen, was wir nach der Analogie Cas- par Fr. Wolffs eigene oder wesentliche Kraft (vis essentialis) nennen, ist hier die Veränderung des als Urrudiment gegebenen Stoffes in die zur individuellen Ausbildung nöthigen Formen und Gestalten. Die gleichmäſsig aus Körnern und einem zähen Bindemit- tel bestehende und nur in der Dimension der Dicke etwas ungleiche Fruchtanlage sondert sich in verschiedene, sowohl dem Aeuſseren nach different gebildete, als der Masse nach mehr gleichmäſsig flüs- sige und gleichmäſsig feste Theile. Die Beobachtung dieses Urvor-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0176"n="148"/><fwplace="top"type="header">Von dem Embryo.</fw><lb/>
Darstellung der Evolutionsgeschichte der Wirbelthiere muſs, wenn<lb/>
sie nicht bloſs eine trockene Aufzählung der verschiedenen Ent-<lb/>
wickelungszustände der Organe seyn, sondern die Rücksicht auf<lb/>
das Ganze immer im Auge behalten will, die Form und Lage<lb/>
der drei Blätter nothwendig in Betrachtung ziehen. Leider ist<lb/>
dies gerade bei der Untersuchung von Säugethierembryonen nur<lb/>
sehr wenig, von menschlichen dagegen noch gar nicht berück-<lb/>
sichtigt worden. Der Grund des Letzteren liegt theils darin, daſs<lb/>
man diese Distinction erst in der neuesten Zeit kennen gelernt,<lb/>
theils darin, daſs man nur in höchst seltenen Fällen Früchte zu<lb/>
untersuchen Gelegenheit hat, in welcher die verschieden entwik-<lb/>
kelten Theile der drei Blätter als Urtypen für die folgenden Zei-<lb/>
ten sich noch darstellen. Die aller Wahrscheinlichkeit nach in ge-<lb/>
wissen Grenzen richtige Analogie mit dem Vogelembryo kann<lb/>
und muſs auf diesem dunkelen Gebiete leiten.</p><lb/><p>Das seröse Blatt giebt den sogenannten animalen Orga-<lb/>
nen und Hilfsorganen ihre Entstehung d. h. Hirn, Rückenmark,<lb/>
Sinnen, Haut, Muskeln, Sehnen, Bändern, Knorpeln und Knochen;<lb/>
das Schleimblatt den vegetativen d. h. Darmkanal, Lungen, Leber,<lb/>
Milz, Pankreas u. a. Drüsen. Herz und Gefäſssystem entstehen<lb/>
aus dem Gefäſsblatte, wenn dieses als ein gesondertes Blatt an-<lb/>
zunehmen ist. Welchen Platz die Geschlechtstheile einnehmen,<lb/>
ob sie dem Schleim- oder dem Gefäſsblatte angehören, ist zur<lb/>
Zeit noch ungewiſs. Rathke hält es für wahrscheinlich, daſs sie<lb/>
aus dem Gefäſsblatte entstehen. Näheres hierüber siehe unten<lb/>
bei diesen selbst. — Ehe wir nun die Metamorphosen der ein-<lb/>
zelnen Blätter gesondert durchgehen, müssen wir zuvor die Ver-<lb/>
änderungen, welche in Folge der Befruchtung in der Fruchtan-<lb/>
lage überhaupt sich ereignen, als die ersten Schritte zur Bildung<lb/>
eines neuen individuellen Wesens, kürzlich betrachten.</p><lb/><p>Die Wirkungen desjenigen, was wir nach der Analogie Cas-<lb/>
par Fr. Wolffs eigene oder wesentliche Kraft (<hirendition="#i">vis essentialis</hi>)<lb/>
nennen, ist hier die Veränderung des als Urrudiment gegebenen<lb/>
Stoffes in die zur individuellen Ausbildung nöthigen Formen und<lb/>
Gestalten. Die gleichmäſsig aus Körnern und einem zähen Bindemit-<lb/>
tel bestehende und nur in der Dimension der Dicke etwas ungleiche<lb/>
Fruchtanlage sondert sich in verschiedene, sowohl dem Aeuſseren<lb/>
nach different gebildete, als der Masse nach mehr gleichmäſsig flüs-<lb/>
sige und gleichmäſsig feste Theile. Die Beobachtung dieses Urvor-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[148/0176]
Von dem Embryo.
Darstellung der Evolutionsgeschichte der Wirbelthiere muſs, wenn
sie nicht bloſs eine trockene Aufzählung der verschiedenen Ent-
wickelungszustände der Organe seyn, sondern die Rücksicht auf
das Ganze immer im Auge behalten will, die Form und Lage
der drei Blätter nothwendig in Betrachtung ziehen. Leider ist
dies gerade bei der Untersuchung von Säugethierembryonen nur
sehr wenig, von menschlichen dagegen noch gar nicht berück-
sichtigt worden. Der Grund des Letzteren liegt theils darin, daſs
man diese Distinction erst in der neuesten Zeit kennen gelernt,
theils darin, daſs man nur in höchst seltenen Fällen Früchte zu
untersuchen Gelegenheit hat, in welcher die verschieden entwik-
kelten Theile der drei Blätter als Urtypen für die folgenden Zei-
ten sich noch darstellen. Die aller Wahrscheinlichkeit nach in ge-
wissen Grenzen richtige Analogie mit dem Vogelembryo kann
und muſs auf diesem dunkelen Gebiete leiten.
Das seröse Blatt giebt den sogenannten animalen Orga-
nen und Hilfsorganen ihre Entstehung d. h. Hirn, Rückenmark,
Sinnen, Haut, Muskeln, Sehnen, Bändern, Knorpeln und Knochen;
das Schleimblatt den vegetativen d. h. Darmkanal, Lungen, Leber,
Milz, Pankreas u. a. Drüsen. Herz und Gefäſssystem entstehen
aus dem Gefäſsblatte, wenn dieses als ein gesondertes Blatt an-
zunehmen ist. Welchen Platz die Geschlechtstheile einnehmen,
ob sie dem Schleim- oder dem Gefäſsblatte angehören, ist zur
Zeit noch ungewiſs. Rathke hält es für wahrscheinlich, daſs sie
aus dem Gefäſsblatte entstehen. Näheres hierüber siehe unten
bei diesen selbst. — Ehe wir nun die Metamorphosen der ein-
zelnen Blätter gesondert durchgehen, müssen wir zuvor die Ver-
änderungen, welche in Folge der Befruchtung in der Fruchtan-
lage überhaupt sich ereignen, als die ersten Schritte zur Bildung
eines neuen individuellen Wesens, kürzlich betrachten.
Die Wirkungen desjenigen, was wir nach der Analogie Cas-
par Fr. Wolffs eigene oder wesentliche Kraft (vis essentialis)
nennen, ist hier die Veränderung des als Urrudiment gegebenen
Stoffes in die zur individuellen Ausbildung nöthigen Formen und
Gestalten. Die gleichmäſsig aus Körnern und einem zähen Bindemit-
tel bestehende und nur in der Dimension der Dicke etwas ungleiche
Fruchtanlage sondert sich in verschiedene, sowohl dem Aeuſseren
nach different gebildete, als der Masse nach mehr gleichmäſsig flüs-
sige und gleichmäſsig feste Theile. Die Beobachtung dieses Urvor-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/176>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.