Uz, Johann Peter: Lyrische und andere Gedichte. 2. Aufl. Ansbach, 1755.Briefe. Der bald ein schimmelnd Wort bejahrter Nacht ent-reisset, Das niemand itzt mehr kennt, bald neue werden heis- set; Die kühnsten Tropen häuft, versetzt, verstümmelt, wagt, Und doch nicht schöner sagt, was andre längst gesagt. Jhr Deutschen, die erhitzt in meinem Tempel zanken! Die Sucht, stets neu zu seyn in Worten und Gedan- ken, Umschleicht, wie eine Pest, auch euer Vaterland, Sie, die mich aus Athen, die mich aus Rom verbannt. Die Muse Griechenlands, die Muse Roms entzückten, So lang sich beyde noch mit edler Einfalt schmückten; Und ihr bescheidner Mund noch immer menschlich sprach, Auch wann aus ihrem Blick ein göttlich Feuer brach. (*) Doch, ach! als beyde sich, wie feile Dirnen, schmink- ten, Von Salben düfteten, und sich am schönsten dünkten, Wenn sich zu frechem Blick ihr buhlend Auge zwang: War ihre Schönheit hin und kraftlos ihr Gesang. Diese lange Rede würde vielleicht noch länger und noch auf- (*) Ainsi degenererent ces graces fieres & modestes des Romains; ainsi perit cette belle & majestueuse sim- plicite de Ciceron. Lettre 1. sur la decadence du gout par Remond de Saint Mard. Q 4
Briefe. Der bald ein ſchimmelnd Wort bejahrter Nacht ent-reiſſet, Das niemand itzt mehr kennt, bald neue werden heiſ- ſet; Die kuͤhnſten Tropen haͤuft, verſetzt, verſtuͤmmelt, wagt, Und doch nicht ſchoͤner ſagt, was andre laͤngſt geſagt. Jhr Deutſchen, die erhitzt in meinem Tempel zanken! Die Sucht, ſtets neu zu ſeyn in Worten und Gedan- ken, Umſchleicht, wie eine Peſt, auch euer Vaterland, Sie, die mich aus Athen, die mich aus Rom verbannt. Die Muſe Griechenlands, die Muſe Roms entzuͤckten, So lang ſich beyde noch mit edler Einfalt ſchmuͤckten; Und ihr beſcheidner Mund noch immer menſchlich ſprach, Auch wann aus ihrem Blick ein goͤttlich Feuer brach. (*) Doch, ach! als beyde ſich, wie feile Dirnen, ſchmink- ten, Von Salben duͤfteten, und ſich am ſchoͤnſten duͤnkten, Wenn ſich zu frechem Blick ihr buhlend Auge zwang: War ihre Schoͤnheit hin und kraftlos ihr Geſang. Dieſe lange Rede wuͤrde vielleicht noch laͤnger und noch auf- (*) Ainſi dégénérèrent ces graces fieres & modeſtes des Romains; ainſi perit cette belle & majeſtueuſe ſim- plicité de Ciceron. Lettre 1. ſur la decadence du gout par Remond de Saint Mard. Q 4
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Briefe.
Der bald ein ſchimmelnd Wort bejahrter Nacht ent-
reiſſet,
Das niemand itzt mehr kennt, bald neue werden heiſ-
ſet;
Die kuͤhnſten Tropen haͤuft, verſetzt, verſtuͤmmelt, wagt,
Und doch nicht ſchoͤner ſagt, was andre laͤngſt geſagt.
Jhr Deutſchen, die erhitzt in meinem Tempel zanken!
Die Sucht, ſtets neu zu ſeyn in Worten und Gedan-
ken,
Umſchleicht, wie eine Peſt, auch euer Vaterland,
Sie, die mich aus Athen, die mich aus Rom verbannt.
Die Muſe Griechenlands, die Muſe Roms entzuͤckten,
So lang ſich beyde noch mit edler Einfalt ſchmuͤckten;
Und ihr beſcheidner Mund noch immer menſchlich ſprach,
Auch wann aus ihrem Blick ein goͤttlich Feuer brach.
(*) Doch, ach! als beyde ſich, wie feile Dirnen, ſchmink-
ten,
Von Salben duͤfteten, und ſich am ſchoͤnſten duͤnkten,
Wenn ſich zu frechem Blick ihr buhlend Auge zwang:
War ihre Schoͤnheit hin und kraftlos ihr Geſang.
Dieſe lange Rede wuͤrde vielleicht noch laͤnger und noch
entſcheidender fuͤr die ſtreitenden Theile geworden ſeyn;
wenn nicht das Getuͤmmel derer, die mit derſelben ſchlecht
zufrieden waren, den Gott unterbrochen und mich ſelbſt
auf-
(*) Ainſi dégénérèrent ces graces fieres & modeſtes des
Romains; ainſi perit cette belle & majeſtueuſe ſim-
plicité de Ciceron. Lettre 1. ſur la decadence du
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