seelter Thiere überschritten seyn, wenn es deren keine in der Natur für sich gäbe, ob sie gleich möglich, und in den beyden beseelten Gattungen der Thiere, die sie in der Voll- kommenheit übersteigen, wirklich vorhanden sind. Dieß ist sehr unwahrscheinlich, und man sieht sich um einer so unnatürlichen Voraussetzung willen genöthiget, wider alle Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß in jedem microskopi- schen Thierchen, in dem unförmlichen Klumpen eines See- wurms oder Schaalthieres, der durch die unvollkommen- sten und einfachsten thierischen Bewegungen, wozu er in seinem ganzen Leben nur fähig ist, und die ein enthaupte- tes blos sinnliches Thier durch unendlich künstlichere, zu- sammengesetztere, zweckmäßigere und selbstthätige willkühr- lich scheinende thierische Handlungen, ohne irgend einigen Beystand einer Seele, so weit übertrifft, in einer Schne- cke, in einem Polypen, in einer Schildkröte, die alle thie- nische Verrichtungen ihres Lebens ohne Kopf und Seele un- unterbrochen fortsetzen, in einer Käsemilbe, einer Laus, einem Flohe, einer Ameise etc. eine Seele wohne, die nur zu lauter solchen thierischen Bewegungen, die ohne alle Seele geschehen können und täglich geschehen, überflüßiger Weise mitwirken sollte. Wenn man hierzu noch das setzet, daß die Gründe, die uns zu einer so sonderbaren Meynung nöthigen, nicht unbeantwortlicher sind, als wirs §. 625. gesehen haben, so können wir diejenigen wohl nicht der Leichtgläubigkeit und Ungründlichkeit beschuldigen, die von ihr abgehen, und in dergleichen Thieren die Mittelstaffel der Vollkommenheit von dem Pflanzenreiche zum Thier- reiche finden.
§. 627.
Es giebt noch Zwischengrade der Vollkommenheit in jeder Hauptgattung der Thiere. Ein Algebraist und ein Hottentott stehen beyde in den Grenzen des vernünftigen Thierreiches: beyde begreifen das Einmaleins, beyde kön- nen einen Gott denken und Recht und Unrecht unterschei-
den;
III Th. Natur der Thiere im Ganzen.
ſeelter Thiere uͤberſchritten ſeyn, wenn es deren keine in der Natur fuͤr ſich gaͤbe, ob ſie gleich moͤglich, und in den beyden beſeelten Gattungen der Thiere, die ſie in der Voll- kommenheit uͤberſteigen, wirklich vorhanden ſind. Dieß iſt ſehr unwahrſcheinlich, und man ſieht ſich um einer ſo unnatuͤrlichen Vorausſetzung willen genoͤthiget, wider alle Wahrſcheinlichkeit anzunehmen, daß in jedem microſkopi- ſchen Thierchen, in dem unfoͤrmlichen Klumpen eines See- wurms oder Schaalthieres, der durch die unvollkommen- ſten und einfachſten thieriſchen Bewegungen, wozu er in ſeinem ganzen Leben nur faͤhig iſt, und die ein enthaupte- tes blos ſinnliches Thier durch unendlich kuͤnſtlichere, zu- ſammengeſetztere, zweckmaͤßigere und ſelbſtthaͤtige willkuͤhr- lich ſcheinende thieriſche Handlungen, ohne irgend einigen Beyſtand einer Seele, ſo weit uͤbertrifft, in einer Schne- cke, in einem Polypen, in einer Schildkroͤte, die alle thie- niſche Verrichtungen ihres Lebens ohne Kopf und Seele un- unterbrochen fortſetzen, in einer Kaͤſemilbe, einer Laus, einem Flohe, einer Ameiſe ꝛc. eine Seele wohne, die nur zu lauter ſolchen thieriſchen Bewegungen, die ohne alle Seele geſchehen koͤnnen und taͤglich geſchehen, uͤberfluͤßiger Weiſe mitwirken ſollte. Wenn man hierzu noch das ſetzet, daß die Gruͤnde, die uns zu einer ſo ſonderbaren Meynung noͤthigen, nicht unbeantwortlicher ſind, als wirs §. 625. geſehen haben, ſo koͤnnen wir diejenigen wohl nicht der Leichtglaͤubigkeit und Ungruͤndlichkeit beſchuldigen, die von ihr abgehen, und in dergleichen Thieren die Mittelſtaffel der Vollkommenheit von dem Pflanzenreiche zum Thier- reiche finden.
§. 627.
Es giebt noch Zwiſchengrade der Vollkommenheit in jeder Hauptgattung der Thiere. Ein Algebraiſt und ein Hottentott ſtehen beyde in den Grenzen des vernuͤnftigen Thierreiches: beyde begreifen das Einmaleins, beyde koͤn- nen einen Gott denken und Recht und Unrecht unterſchei-
den;
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III Th. Natur der Thiere im Ganzen.
ſeelter Thiere uͤberſchritten ſeyn, wenn es deren keine in
der Natur fuͤr ſich gaͤbe, ob ſie gleich moͤglich, und in den
beyden beſeelten Gattungen der Thiere, die ſie in der Voll-
kommenheit uͤberſteigen, wirklich vorhanden ſind. Dieß
iſt ſehr unwahrſcheinlich, und man ſieht ſich um einer ſo
unnatuͤrlichen Vorausſetzung willen genoͤthiget, wider alle
Wahrſcheinlichkeit anzunehmen, daß in jedem microſkopi-
ſchen Thierchen, in dem unfoͤrmlichen Klumpen eines See-
wurms oder Schaalthieres, der durch die unvollkommen-
ſten und einfachſten thieriſchen Bewegungen, wozu er in
ſeinem ganzen Leben nur faͤhig iſt, und die ein enthaupte-
tes blos ſinnliches Thier durch unendlich kuͤnſtlichere, zu-
ſammengeſetztere, zweckmaͤßigere und ſelbſtthaͤtige willkuͤhr-
lich ſcheinende thieriſche Handlungen, ohne irgend einigen
Beyſtand einer Seele, ſo weit uͤbertrifft, in einer Schne-
cke, in einem Polypen, in einer Schildkroͤte, die alle thie-
niſche Verrichtungen ihres Lebens ohne Kopf und Seele un-
unterbrochen fortſetzen, in einer Kaͤſemilbe, einer Laus,
einem Flohe, einer Ameiſe ꝛc. eine Seele wohne, die nur
zu lauter ſolchen thieriſchen Bewegungen, die ohne alle
Seele geſchehen koͤnnen und taͤglich geſchehen, uͤberfluͤßiger
Weiſe mitwirken ſollte. Wenn man hierzu noch das ſetzet,
daß die Gruͤnde, die uns zu einer ſo ſonderbaren Meynung
noͤthigen, nicht unbeantwortlicher ſind, als wirs §. 625.
geſehen haben, ſo koͤnnen wir diejenigen wohl nicht der
Leichtglaͤubigkeit und Ungruͤndlichkeit beſchuldigen, die von
ihr abgehen, und in dergleichen Thieren die Mittelſtaffel
der Vollkommenheit von dem Pflanzenreiche zum Thier-
reiche finden.
§. 627.
Es giebt noch Zwiſchengrade der Vollkommenheit in
jeder Hauptgattung der Thiere. Ein Algebraiſt und ein
Hottentott ſtehen beyde in den Grenzen des vernuͤnftigen
Thierreiches: beyde begreifen das Einmaleins, beyde koͤn-
nen einen Gott denken und Recht und Unrecht unterſchei-
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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 644. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/668>, abgerufen am 22.02.2025.
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