Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

II Th. Nervenkr. 4 K. Verh. zu den th. Seelenkr.
empfunden werden können, als Nervenwirkungen hervor-
gebracht, die sie als Seelenwirkungen der Triebe hervor-
bringen, wenn sie empfunden werden. Der willkührliche
Sprung, den ein enthaupteter Frosch thut, wenn man ent-
weder sein Rückenmark anrühret, oder ihn in eine Zehe
kneipt, ist unumgänglich eine bloße Nervenwirkung, und
niemand würde zweifeln, daß er die Seelenwirkung des
Triebes zu der willkührlichen Bewegung zu entrinnen wä-
re, wenn man ihn ein[en] unenthaupteten Frosch auf eben
dieselbe Berührung thun sähe. Wenn man glauben kann,
daß eine Fliege, die man anrühret, durch eine äußere Em-
pfindung zu dem Triebe gereizet werde, sich willkührlich
davon zu machen, so ersetzet gewiß derselbe unempfundene
äußere sinnliche Eindruck diese Seelenwirkung des Triebes
zu einer willkührlichen Bewegung, durch eine bloße Ner-
venwirkung bey den enthaupteten Fliegen, welche, wenn
man sie anrühret, ebenfalls davon fliegen. Eine lebendige
Misgeburt ohne Kopf zieht, wenn man ihre Glieder sticht
oder brennt, eben die Glieder, eben so, durch eine bloße
Nervenwirkung zurück, wie ein natürlich gebornes Kind
thun würde, wenn man ihm eben denselben äußern sinnli-
chen Eindruck gäbe. Man erzählet, daß ein enthaupteter
Mensch, dem man einen Degen durch die Brust gestoßen,
die Arme zusammengeschlagen habe. Diese willkührliche
Bewegung würde die Seelenwirkung eines Triebes sich zu
retten oder zu beklagen gewesen seyn, wenn der Enthauptete
den Stoß hätte empfinden können. Jtzt ist er offenbar ei-
ne Nervenwirkung eben desselben äußern sinnlichen Ein-
drucks. Die ersten Bewegungen, die ein enthaupteter
Mensch zu machen pflegt, sobald er zu Boden gestürzet ist,
sind größtentheils willkührliche. Er zucket heftig mit sei-
nen Armen, gleichsam um die Hände von ihren Banden
zu befreyen, damit er sie gebrauchen könne, sich zu helfen.
Er greift mit den Händen, er suchet sich zu wenden, auf-
zurichten und auf die Beine zu bringen. An enthaupteten
Thieren kann man dasselbe täglich sehen. Wäre ein solches

Thier

II Th. Nervenkr. 4 K. Verh. zu den th. Seelenkr.
empfunden werden koͤnnen, als Nervenwirkungen hervor-
gebracht, die ſie als Seelenwirkungen der Triebe hervor-
bringen, wenn ſie empfunden werden. Der willkuͤhrliche
Sprung, den ein enthaupteter Froſch thut, wenn man ent-
weder ſein Ruͤckenmark anruͤhret, oder ihn in eine Zehe
kneipt, iſt unumgaͤnglich eine bloße Nervenwirkung, und
niemand wuͤrde zweifeln, daß er die Seelenwirkung des
Triebes zu der willkuͤhrlichen Bewegung zu entrinnen waͤ-
re, wenn man ihn ein[en] unenthaupteten Froſch auf eben
dieſelbe Beruͤhrung thun ſaͤhe. Wenn man glauben kann,
daß eine Fliege, die man anruͤhret, durch eine aͤußere Em-
pfindung zu dem Triebe gereizet werde, ſich willkuͤhrlich
davon zu machen, ſo erſetzet gewiß derſelbe unempfundene
aͤußere ſinnliche Eindruck dieſe Seelenwirkung des Triebes
zu einer willkuͤhrlichen Bewegung, durch eine bloße Ner-
venwirkung bey den enthaupteten Fliegen, welche, wenn
man ſie anruͤhret, ebenfalls davon fliegen. Eine lebendige
Misgeburt ohne Kopf zieht, wenn man ihre Glieder ſticht
oder brennt, eben die Glieder, eben ſo, durch eine bloße
Nervenwirkung zuruͤck, wie ein natuͤrlich gebornes Kind
thun wuͤrde, wenn man ihm eben denſelben aͤußern ſinnli-
chen Eindruck gaͤbe. Man erzaͤhlet, daß ein enthaupteter
Menſch, dem man einen Degen durch die Bruſt geſtoßen,
die Arme zuſammengeſchlagen habe. Dieſe willkuͤhrliche
Bewegung wuͤrde die Seelenwirkung eines Triebes ſich zu
retten oder zu beklagen geweſen ſeyn, wenn der Enthauptete
den Stoß haͤtte empfinden koͤnnen. Jtzt iſt er offenbar ei-
ne Nervenwirkung eben deſſelben aͤußern ſinnlichen Ein-
drucks. Die erſten Bewegungen, die ein enthaupteter
Menſch zu machen pflegt, ſobald er zu Boden geſtuͤrzet iſt,
ſind groͤßtentheils willkuͤhrliche. Er zucket heftig mit ſei-
nen Armen, gleichſam um die Haͤnde von ihren Banden
zu befreyen, damit er ſie gebrauchen koͤnne, ſich zu helfen.
Er greift mit den Haͤnden, er ſuchet ſich zu wenden, auf-
zurichten und auf die Beine zu bringen. An enthaupteten
Thieren kann man daſſelbe taͤglich ſehen. Waͤre ein ſolches

Thier
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0576" n="552"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II</hi> Th. Nervenkr. 4 K. Verh. zu den th. Seelenkr.</hi></fw><lb/>
empfunden werden ko&#x0364;nnen, als Nervenwirkungen hervor-<lb/>
gebracht, die &#x017F;ie als Seelenwirkungen der Triebe hervor-<lb/>
bringen, wenn &#x017F;ie empfunden werden. Der willku&#x0364;hrliche<lb/>
Sprung, den ein enthaupteter Fro&#x017F;ch thut, wenn man ent-<lb/>
weder &#x017F;ein Ru&#x0364;ckenmark anru&#x0364;hret, oder ihn in eine Zehe<lb/>
kneipt, i&#x017F;t unumga&#x0364;nglich eine bloße Nervenwirkung, und<lb/>
niemand wu&#x0364;rde zweifeln, daß er die Seelenwirkung des<lb/>
Triebes zu der willku&#x0364;hrlichen Bewegung zu entrinnen wa&#x0364;-<lb/>
re, wenn man ihn ein<supplied>en</supplied> unenthaupteten Fro&#x017F;ch auf eben<lb/>
die&#x017F;elbe Beru&#x0364;hrung thun &#x017F;a&#x0364;he. Wenn man glauben kann,<lb/>
daß eine Fliege, die man anru&#x0364;hret, durch eine a&#x0364;ußere Em-<lb/>
pfindung zu dem Triebe gereizet werde, &#x017F;ich willku&#x0364;hrlich<lb/>
davon zu machen, &#x017F;o er&#x017F;etzet gewiß der&#x017F;elbe unempfundene<lb/>
a&#x0364;ußere &#x017F;innliche Eindruck die&#x017F;e Seelenwirkung des Triebes<lb/>
zu einer willku&#x0364;hrlichen Bewegung, durch eine bloße Ner-<lb/>
venwirkung bey den enthaupteten Fliegen, welche, wenn<lb/>
man &#x017F;ie anru&#x0364;hret, ebenfalls davon fliegen. Eine lebendige<lb/>
Misgeburt ohne Kopf zieht, wenn man ihre Glieder &#x017F;ticht<lb/>
oder brennt, eben die Glieder, eben &#x017F;o, durch eine bloße<lb/>
Nervenwirkung zuru&#x0364;ck, wie ein natu&#x0364;rlich gebornes Kind<lb/>
thun wu&#x0364;rde, wenn man ihm eben den&#x017F;elben a&#x0364;ußern &#x017F;innli-<lb/>
chen Eindruck ga&#x0364;be. Man erza&#x0364;hlet, daß ein enthaupteter<lb/>
Men&#x017F;ch, dem man einen Degen durch die Bru&#x017F;t ge&#x017F;toßen,<lb/>
die Arme zu&#x017F;ammenge&#x017F;chlagen habe. Die&#x017F;e willku&#x0364;hrliche<lb/>
Bewegung wu&#x0364;rde die Seelenwirkung eines Triebes &#x017F;ich zu<lb/>
retten oder zu beklagen gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, wenn der Enthauptete<lb/>
den Stoß ha&#x0364;tte empfinden ko&#x0364;nnen. Jtzt i&#x017F;t er offenbar ei-<lb/>
ne Nervenwirkung eben de&#x017F;&#x017F;elben a&#x0364;ußern &#x017F;innlichen Ein-<lb/>
drucks. Die er&#x017F;ten Bewegungen, die ein enthaupteter<lb/>
Men&#x017F;ch zu machen pflegt, &#x017F;obald er zu Boden ge&#x017F;tu&#x0364;rzet i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;ind gro&#x0364;ßtentheils willku&#x0364;hrliche. Er zucket heftig mit &#x017F;ei-<lb/>
nen Armen, gleich&#x017F;am um die Ha&#x0364;nde von ihren Banden<lb/>
zu befreyen, damit er &#x017F;ie gebrauchen ko&#x0364;nne, &#x017F;ich zu helfen.<lb/>
Er greift mit den Ha&#x0364;nden, er &#x017F;uchet &#x017F;ich zu wenden, auf-<lb/>
zurichten und auf die Beine zu bringen. An enthaupteten<lb/>
Thieren kann man da&#x017F;&#x017F;elbe ta&#x0364;glich &#x017F;ehen. Wa&#x0364;re ein &#x017F;olches<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Thier</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[552/0576] II Th. Nervenkr. 4 K. Verh. zu den th. Seelenkr. empfunden werden koͤnnen, als Nervenwirkungen hervor- gebracht, die ſie als Seelenwirkungen der Triebe hervor- bringen, wenn ſie empfunden werden. Der willkuͤhrliche Sprung, den ein enthaupteter Froſch thut, wenn man ent- weder ſein Ruͤckenmark anruͤhret, oder ihn in eine Zehe kneipt, iſt unumgaͤnglich eine bloße Nervenwirkung, und niemand wuͤrde zweifeln, daß er die Seelenwirkung des Triebes zu der willkuͤhrlichen Bewegung zu entrinnen waͤ- re, wenn man ihn einen unenthaupteten Froſch auf eben dieſelbe Beruͤhrung thun ſaͤhe. Wenn man glauben kann, daß eine Fliege, die man anruͤhret, durch eine aͤußere Em- pfindung zu dem Triebe gereizet werde, ſich willkuͤhrlich davon zu machen, ſo erſetzet gewiß derſelbe unempfundene aͤußere ſinnliche Eindruck dieſe Seelenwirkung des Triebes zu einer willkuͤhrlichen Bewegung, durch eine bloße Ner- venwirkung bey den enthaupteten Fliegen, welche, wenn man ſie anruͤhret, ebenfalls davon fliegen. Eine lebendige Misgeburt ohne Kopf zieht, wenn man ihre Glieder ſticht oder brennt, eben die Glieder, eben ſo, durch eine bloße Nervenwirkung zuruͤck, wie ein natuͤrlich gebornes Kind thun wuͤrde, wenn man ihm eben denſelben aͤußern ſinnli- chen Eindruck gaͤbe. Man erzaͤhlet, daß ein enthaupteter Menſch, dem man einen Degen durch die Bruſt geſtoßen, die Arme zuſammengeſchlagen habe. Dieſe willkuͤhrliche Bewegung wuͤrde die Seelenwirkung eines Triebes ſich zu retten oder zu beklagen geweſen ſeyn, wenn der Enthauptete den Stoß haͤtte empfinden koͤnnen. Jtzt iſt er offenbar ei- ne Nervenwirkung eben deſſelben aͤußern ſinnlichen Ein- drucks. Die erſten Bewegungen, die ein enthaupteter Menſch zu machen pflegt, ſobald er zu Boden geſtuͤrzet iſt, ſind groͤßtentheils willkuͤhrliche. Er zucket heftig mit ſei- nen Armen, gleichſam um die Haͤnde von ihren Banden zu befreyen, damit er ſie gebrauchen koͤnne, ſich zu helfen. Er greift mit den Haͤnden, er ſuchet ſich zu wenden, auf- zurichten und auf die Beine zu bringen. An enthaupteten Thieren kann man daſſelbe taͤglich ſehen. Waͤre ein ſolches Thier

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/576
Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 552. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/576>, abgerufen am 23.11.2024.