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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

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1 Kap. Die Nervenkräfte überhaupt.
eine lange Zeit stehen, fortgehen, sich aufrichten, springen,
fliegen, schwirren, Speise suchen, sich wehren, sich ver-
bergen, sich begatten, sich reinigen, u. s. w. Ein ent-
haupteter Mensch bemühet sich in den ersten Augenblicken,
seine Hände von den Banden loszuwinden, sich aufzurich-
ten, mit den Füßen zu stampfen; eine Taube, welcher der
Kopf im Laufen abgeschlagen wird, rennet noch sehr weit
fort, bis sie irgendwo anstößt; ein Frosch springt ohne
Kopf weiter, eine Fliege fliegt davon, eine Schlange, ein
Fisch, ein Wurm, windet und krümmet sich, sobald man
diese Thiere berühret, ob sie gleich nicht mehr empfinden
können. Die Fliege bürstet mit ihren Vorderfüßen ihre
Augen, vermöge eines natürlichen Triebes, ob ihr gleich
der Kopf genommen ist. Eine Schnecke suchet nach abge-
schnittenem Kopfe ihre Nahrung durch ihr gewöhnliches
Hin- und Herfühlen; eine enthauptete Schildkröte thut
dasselbe und lebet so ein halbes Jahr fort; sie richtet sich
wieder auf, oder bemühet sich wenigstens darum, wenn
man sie auf den Rücken geleget hat; ein Ohrwurm kneipet
noch mit den Zangen seines abgeschnittenen Bauchs, wenn
er selbst mit seinem Kopfe daran naget; ein Bienenbauch
sticht noch, wenn er gereizet wird; die enthaupteten Thiere,
die sich mit ihren Hinterfüßen wehren, treten damit aufs
gewaltigste bey jeder Berührung, die ihre Nerven stark an-
greift; die Grillen schwirren ohne Kopf, welches bey ihnen
die gewöhnliche Reizung der Liebe ist. Die Schmetterlinge
der Raupen und Seidenwürmer paaren sich nach der Ent-
hauptung, und sie und die Fliegen legen Eyer; kurz, alle
Handlungen der Triebe der Thiere sieht man zuweilen als
bloße Nervenwirkungen erfolgen, und es ist natürlich noth-
wendig, daß sie es bey erst neugebornen Thieren seyn müs-
sen, und nur erst nach vielen gehabten äußern Empfindun-
gen bey zunehmender Erkenntniß, Seelenwirkungen wer-
den. §. 269.

§. 397.
B b 5

1 Kap. Die Nervenkraͤfte uͤberhaupt.
eine lange Zeit ſtehen, fortgehen, ſich aufrichten, ſpringen,
fliegen, ſchwirren, Speiſe ſuchen, ſich wehren, ſich ver-
bergen, ſich begatten, ſich reinigen, u. ſ. w. Ein ent-
haupteter Menſch bemuͤhet ſich in den erſten Augenblicken,
ſeine Haͤnde von den Banden loszuwinden, ſich aufzurich-
ten, mit den Fuͤßen zu ſtampfen; eine Taube, welcher der
Kopf im Laufen abgeſchlagen wird, rennet noch ſehr weit
fort, bis ſie irgendwo anſtoͤßt; ein Froſch ſpringt ohne
Kopf weiter, eine Fliege fliegt davon, eine Schlange, ein
Fiſch, ein Wurm, windet und kruͤmmet ſich, ſobald man
dieſe Thiere beruͤhret, ob ſie gleich nicht mehr empfinden
koͤnnen. Die Fliege buͤrſtet mit ihren Vorderfuͤßen ihre
Augen, vermoͤge eines natuͤrlichen Triebes, ob ihr gleich
der Kopf genommen iſt. Eine Schnecke ſuchet nach abge-
ſchnittenem Kopfe ihre Nahrung durch ihr gewoͤhnliches
Hin- und Herfuͤhlen; eine enthauptete Schildkroͤte thut
daſſelbe und lebet ſo ein halbes Jahr fort; ſie richtet ſich
wieder auf, oder bemuͤhet ſich wenigſtens darum, wenn
man ſie auf den Ruͤcken geleget hat; ein Ohrwurm kneipet
noch mit den Zangen ſeines abgeſchnittenen Bauchs, wenn
er ſelbſt mit ſeinem Kopfe daran naget; ein Bienenbauch
ſticht noch, wenn er gereizet wird; die enthaupteten Thiere,
die ſich mit ihren Hinterfuͤßen wehren, treten damit aufs
gewaltigſte bey jeder Beruͤhrung, die ihre Nerven ſtark an-
greift; die Grillen ſchwirren ohne Kopf, welches bey ihnen
die gewoͤhnliche Reizung der Liebe iſt. Die Schmetterlinge
der Raupen und Seidenwuͤrmer paaren ſich nach der Ent-
hauptung, und ſie und die Fliegen legen Eyer; kurz, alle
Handlungen der Triebe der Thiere ſieht man zuweilen als
bloße Nervenwirkungen erfolgen, und es iſt natuͤrlich noth-
wendig, daß ſie es bey erſt neugebornen Thieren ſeyn muͤſ-
ſen, und nur erſt nach vielen gehabten aͤußern Empfindun-
gen bey zunehmender Erkenntniß, Seelenwirkungen wer-
den. §. 269.

§. 397.
B b 5
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[393/0417] 1 Kap. Die Nervenkraͤfte uͤberhaupt. eine lange Zeit ſtehen, fortgehen, ſich aufrichten, ſpringen, fliegen, ſchwirren, Speiſe ſuchen, ſich wehren, ſich ver- bergen, ſich begatten, ſich reinigen, u. ſ. w. Ein ent- haupteter Menſch bemuͤhet ſich in den erſten Augenblicken, ſeine Haͤnde von den Banden loszuwinden, ſich aufzurich- ten, mit den Fuͤßen zu ſtampfen; eine Taube, welcher der Kopf im Laufen abgeſchlagen wird, rennet noch ſehr weit fort, bis ſie irgendwo anſtoͤßt; ein Froſch ſpringt ohne Kopf weiter, eine Fliege fliegt davon, eine Schlange, ein Fiſch, ein Wurm, windet und kruͤmmet ſich, ſobald man dieſe Thiere beruͤhret, ob ſie gleich nicht mehr empfinden koͤnnen. Die Fliege buͤrſtet mit ihren Vorderfuͤßen ihre Augen, vermoͤge eines natuͤrlichen Triebes, ob ihr gleich der Kopf genommen iſt. Eine Schnecke ſuchet nach abge- ſchnittenem Kopfe ihre Nahrung durch ihr gewoͤhnliches Hin- und Herfuͤhlen; eine enthauptete Schildkroͤte thut daſſelbe und lebet ſo ein halbes Jahr fort; ſie richtet ſich wieder auf, oder bemuͤhet ſich wenigſtens darum, wenn man ſie auf den Ruͤcken geleget hat; ein Ohrwurm kneipet noch mit den Zangen ſeines abgeſchnittenen Bauchs, wenn er ſelbſt mit ſeinem Kopfe daran naget; ein Bienenbauch ſticht noch, wenn er gereizet wird; die enthaupteten Thiere, die ſich mit ihren Hinterfuͤßen wehren, treten damit aufs gewaltigſte bey jeder Beruͤhrung, die ihre Nerven ſtark an- greift; die Grillen ſchwirren ohne Kopf, welches bey ihnen die gewoͤhnliche Reizung der Liebe iſt. Die Schmetterlinge der Raupen und Seidenwuͤrmer paaren ſich nach der Ent- hauptung, und ſie und die Fliegen legen Eyer; kurz, alle Handlungen der Triebe der Thiere ſieht man zuweilen als bloße Nervenwirkungen erfolgen, und es iſt natuͤrlich noth- wendig, daß ſie es bey erſt neugebornen Thieren ſeyn muͤſ- ſen, und nur erſt nach vielen gehabten aͤußern Empfindun- gen bey zunehmender Erkenntniß, Seelenwirkungen wer- den. §. 269. §. 397. B b 5

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Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/417>, abgerufen am 25.11.2024.