Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.thume der Kunst eingeschlossen. Man läßt ihn allein, und er wendet diese ihn so beglückende Muße an, um die Gemälde zu betrachten, die, theils angefangen, theils der Vollendung nahe, einige bereits vollendet, auf Staffeleien und Gerüsten stehen. Es sind darunter Meisterwerke, die die Bewunderung von ganz Paris auf sich gezogen haben. Der junge Künstler giebt sich ganz dem Triebe seines Gefühls hin, er verweilt in Betrachtung und Entzücken bald vor diesem, bald vor jenem Bilde, und endlich fesselt ihn auf längere Zeit eine Gruppe, die mit großer Vollendung eine Scene aus dem Leben der Semiramis darstellt. Es droht eine Empörung unter dem Heere auszubrechen, und um diese im Keim zu ersticken, sieht man die Königin in der Halle der versammelten Heerführer erscheinen und sie an ihre Pflicht mahnen. Einer der Empörer, ein junger Häuptling, hat zugleich verrätherisch an dem Herzen der Fürstin, das sich ihm zugewendet, gehandelt. Die Frauen- und Herrschergröße der kriegerischen Heldin zeigt sich in Blick und Haltung, den Männern gegenüber, in siegreicher Glorie. Indem der junge Künstler noch vertieft in das Anschauen dieser Gruppe verweilte, fühlte er einen leisen Schlag auf seine Schulter, und wie er sich umschaute, stand die schöne, königliche Gestalt aus dem Bilde leibhaftig vor ihm; eine Frau, nahe an Dreißig, groß, mit schönen, edeln Formen, durchgeistigt und in ihrem Antlitz Züge schmerzlicher Melancholie zeigend. Ihre Blicke, thume der Kunst eingeschlossen. Man läßt ihn allein, und er wendet diese ihn so beglückende Muße an, um die Gemälde zu betrachten, die, theils angefangen, theils der Vollendung nahe, einige bereits vollendet, auf Staffeleien und Gerüsten stehen. Es sind darunter Meisterwerke, die die Bewunderung von ganz Paris auf sich gezogen haben. Der junge Künstler giebt sich ganz dem Triebe seines Gefühls hin, er verweilt in Betrachtung und Entzücken bald vor diesem, bald vor jenem Bilde, und endlich fesselt ihn auf längere Zeit eine Gruppe, die mit großer Vollendung eine Scene aus dem Leben der Semiramis darstellt. Es droht eine Empörung unter dem Heere auszubrechen, und um diese im Keim zu ersticken, sieht man die Königin in der Halle der versammelten Heerführer erscheinen und sie an ihre Pflicht mahnen. Einer der Empörer, ein junger Häuptling, hat zugleich verrätherisch an dem Herzen der Fürstin, das sich ihm zugewendet, gehandelt. Die Frauen- und Herrschergröße der kriegerischen Heldin zeigt sich in Blick und Haltung, den Männern gegenüber, in siegreicher Glorie. Indem der junge Künstler noch vertieft in das Anschauen dieser Gruppe verweilte, fühlte er einen leisen Schlag auf seine Schulter, und wie er sich umschaute, stand die schöne, königliche Gestalt aus dem Bilde leibhaftig vor ihm; eine Frau, nahe an Dreißig, groß, mit schönen, edeln Formen, durchgeistigt und in ihrem Antlitz Züge schmerzlicher Melancholie zeigend. Ihre Blicke, <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0081"/> thume der Kunst eingeschlossen. Man läßt ihn allein, und er wendet diese ihn so beglückende Muße an, um die Gemälde zu betrachten, die, theils angefangen, theils der Vollendung nahe, einige bereits vollendet, auf Staffeleien und Gerüsten stehen. Es sind darunter Meisterwerke, die die Bewunderung von ganz Paris auf sich gezogen haben. Der junge Künstler giebt sich ganz dem Triebe seines Gefühls hin, er verweilt in Betrachtung und Entzücken bald vor diesem, bald vor jenem Bilde, und endlich fesselt ihn auf längere Zeit eine Gruppe, die mit großer Vollendung eine Scene aus dem Leben der Semiramis darstellt. Es droht eine Empörung unter dem Heere auszubrechen, und um diese im Keim zu ersticken, sieht man die Königin in der Halle der versammelten Heerführer erscheinen und sie an ihre Pflicht mahnen. Einer der Empörer, ein junger Häuptling, hat zugleich verrätherisch an dem Herzen der Fürstin, das sich ihm zugewendet, gehandelt. Die Frauen- und Herrschergröße der kriegerischen Heldin zeigt sich in Blick und Haltung, den Männern gegenüber, in siegreicher Glorie.</p><lb/> <p>Indem der junge Künstler noch vertieft in das Anschauen dieser Gruppe verweilte, fühlte er einen leisen Schlag auf seine Schulter, und wie er sich umschaute, stand die schöne, königliche Gestalt aus dem Bilde leibhaftig vor ihm; eine Frau, nahe an Dreißig, groß, mit schönen, edeln Formen, durchgeistigt und in ihrem Antlitz Züge schmerzlicher Melancholie zeigend. Ihre Blicke,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0081]
thume der Kunst eingeschlossen. Man läßt ihn allein, und er wendet diese ihn so beglückende Muße an, um die Gemälde zu betrachten, die, theils angefangen, theils der Vollendung nahe, einige bereits vollendet, auf Staffeleien und Gerüsten stehen. Es sind darunter Meisterwerke, die die Bewunderung von ganz Paris auf sich gezogen haben. Der junge Künstler giebt sich ganz dem Triebe seines Gefühls hin, er verweilt in Betrachtung und Entzücken bald vor diesem, bald vor jenem Bilde, und endlich fesselt ihn auf längere Zeit eine Gruppe, die mit großer Vollendung eine Scene aus dem Leben der Semiramis darstellt. Es droht eine Empörung unter dem Heere auszubrechen, und um diese im Keim zu ersticken, sieht man die Königin in der Halle der versammelten Heerführer erscheinen und sie an ihre Pflicht mahnen. Einer der Empörer, ein junger Häuptling, hat zugleich verrätherisch an dem Herzen der Fürstin, das sich ihm zugewendet, gehandelt. Die Frauen- und Herrschergröße der kriegerischen Heldin zeigt sich in Blick und Haltung, den Männern gegenüber, in siegreicher Glorie.
Indem der junge Künstler noch vertieft in das Anschauen dieser Gruppe verweilte, fühlte er einen leisen Schlag auf seine Schulter, und wie er sich umschaute, stand die schöne, königliche Gestalt aus dem Bilde leibhaftig vor ihm; eine Frau, nahe an Dreißig, groß, mit schönen, edeln Formen, durchgeistigt und in ihrem Antlitz Züge schmerzlicher Melancholie zeigend. Ihre Blicke,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/81 |
Zitationshilfe: | Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/81>, abgerufen am 16.02.2025. |