Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Kind gegen das magere, hohläugige Greisenskelett, das dort so heißt. Halt ein! schrie Scholastika athemlos. Erkanntest du mich unter diesen Gestalten? Wie sollt' ich? entgegnete die Kranke, da du noch unter den Lebendigen weilst; aber fürchte die dunkle Stunde, wenn sie kommt, den Schleier von deinem Haupte zu nehmen. Sie fuhr in ihrer Erzählung fort: Als ich noch dastand und die Stadt des Jammers betrachtete, schlugen alle Glocken zusammen eine furchtbare Mitternachtstunde an. Das gelbe, zitternde Feuer, das bis jetzt das Gewölbe der Finsterniß erleuchtet hatte, floß in Millionen kleinen spitzen Flämmchen zur Erde nieder, und nun entzündete sich jenes schwarzfarbige Feuer, das man nur in diesen Gründen des Elends und der Verzweiflung kennt und dessen peinigende Kraft weit die farbigen Gluten übertrifft. Die Stadt schwamm jetzt in einem schwarzen zitternden Flor, der unmerkbar hin und her wogte und das schwarze Feuer bildete. Es war von einer Macht, daß die in tausenden von Meilen entfernte Kruste des Gewölbes in Risse sprang und an einzelnen Stellen zerbröckelte. Nur wenig Minuten kann diese grausenvolle Glut dauern, sonst verzehrte sie die Grundfesten des Weltbaues. Ein Schmerzgeheul aus hundert Millionen Kehlen zerriß jetzt mit einem Sturmwindstoße die Luft, dann war Alles stille, und diese Stille, während die Flamme wüthete, war noch um vieles entsetzenvoller als jener Schrei, der Herz und Ohren zerriß. Ich Kind gegen das magere, hohläugige Greisenskelett, das dort so heißt. Halt ein! schrie Scholastika athemlos. Erkanntest du mich unter diesen Gestalten? Wie sollt' ich? entgegnete die Kranke, da du noch unter den Lebendigen weilst; aber fürchte die dunkle Stunde, wenn sie kommt, den Schleier von deinem Haupte zu nehmen. Sie fuhr in ihrer Erzählung fort: Als ich noch dastand und die Stadt des Jammers betrachtete, schlugen alle Glocken zusammen eine furchtbare Mitternachtstunde an. Das gelbe, zitternde Feuer, das bis jetzt das Gewölbe der Finsterniß erleuchtet hatte, floß in Millionen kleinen spitzen Flämmchen zur Erde nieder, und nun entzündete sich jenes schwarzfarbige Feuer, das man nur in diesen Gründen des Elends und der Verzweiflung kennt und dessen peinigende Kraft weit die farbigen Gluten übertrifft. Die Stadt schwamm jetzt in einem schwarzen zitternden Flor, der unmerkbar hin und her wogte und das schwarze Feuer bildete. Es war von einer Macht, daß die in tausenden von Meilen entfernte Kruste des Gewölbes in Risse sprang und an einzelnen Stellen zerbröckelte. Nur wenig Minuten kann diese grausenvolle Glut dauern, sonst verzehrte sie die Grundfesten des Weltbaues. Ein Schmerzgeheul aus hundert Millionen Kehlen zerriß jetzt mit einem Sturmwindstoße die Luft, dann war Alles stille, und diese Stille, während die Flamme wüthete, war noch um vieles entsetzenvoller als jener Schrei, der Herz und Ohren zerriß. Ich <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0073"/> Kind gegen das magere, hohläugige Greisenskelett, das dort so heißt.</p><lb/> <p>Halt ein! schrie Scholastika athemlos. Erkanntest du mich unter diesen Gestalten?</p><lb/> <p>Wie sollt' ich? entgegnete die Kranke, da du noch unter den Lebendigen weilst; aber fürchte die dunkle Stunde, wenn sie kommt, den Schleier von deinem Haupte zu nehmen. Sie fuhr in ihrer Erzählung fort: Als ich noch dastand und die Stadt des Jammers betrachtete, schlugen alle Glocken zusammen eine furchtbare Mitternachtstunde an. Das gelbe, zitternde Feuer, das bis jetzt das Gewölbe der Finsterniß erleuchtet hatte, floß in Millionen kleinen spitzen Flämmchen zur Erde nieder, und nun entzündete sich jenes schwarzfarbige Feuer, das man nur in diesen Gründen des Elends und der Verzweiflung kennt und dessen peinigende Kraft weit die farbigen Gluten übertrifft. Die Stadt schwamm jetzt in einem schwarzen zitternden Flor, der unmerkbar hin und her wogte und das schwarze Feuer bildete. Es war von einer Macht, daß die in tausenden von Meilen entfernte Kruste des Gewölbes in Risse sprang und an einzelnen Stellen zerbröckelte. Nur wenig Minuten kann diese grausenvolle Glut dauern, sonst verzehrte sie die Grundfesten des Weltbaues. Ein Schmerzgeheul aus hundert Millionen Kehlen zerriß jetzt mit einem Sturmwindstoße die Luft, dann war Alles stille, und diese Stille, während die Flamme wüthete, war noch um vieles entsetzenvoller als jener Schrei, der Herz und Ohren zerriß. Ich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0073]
Kind gegen das magere, hohläugige Greisenskelett, das dort so heißt.
Halt ein! schrie Scholastika athemlos. Erkanntest du mich unter diesen Gestalten?
Wie sollt' ich? entgegnete die Kranke, da du noch unter den Lebendigen weilst; aber fürchte die dunkle Stunde, wenn sie kommt, den Schleier von deinem Haupte zu nehmen. Sie fuhr in ihrer Erzählung fort: Als ich noch dastand und die Stadt des Jammers betrachtete, schlugen alle Glocken zusammen eine furchtbare Mitternachtstunde an. Das gelbe, zitternde Feuer, das bis jetzt das Gewölbe der Finsterniß erleuchtet hatte, floß in Millionen kleinen spitzen Flämmchen zur Erde nieder, und nun entzündete sich jenes schwarzfarbige Feuer, das man nur in diesen Gründen des Elends und der Verzweiflung kennt und dessen peinigende Kraft weit die farbigen Gluten übertrifft. Die Stadt schwamm jetzt in einem schwarzen zitternden Flor, der unmerkbar hin und her wogte und das schwarze Feuer bildete. Es war von einer Macht, daß die in tausenden von Meilen entfernte Kruste des Gewölbes in Risse sprang und an einzelnen Stellen zerbröckelte. Nur wenig Minuten kann diese grausenvolle Glut dauern, sonst verzehrte sie die Grundfesten des Weltbaues. Ein Schmerzgeheul aus hundert Millionen Kehlen zerriß jetzt mit einem Sturmwindstoße die Luft, dann war Alles stille, und diese Stille, während die Flamme wüthete, war noch um vieles entsetzenvoller als jener Schrei, der Herz und Ohren zerriß. Ich
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Zitationshilfe: | Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/73>, abgerufen am 28.07.2024. |