Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.In der Nähe von Kiew befindet sich ein Nonnenkloster, dessen Bewohnerinnen sämmtlich Malerinnen sind; doch möchten sie schwerlich vor dem Richterstuhle der Kunstkritik Gnade finden. Diese einsamen und in strenger Zurückgezogenheit lebenden Religiosen führen den Pinsel und die Palette, wie ihre Schwestern wenige Meilen aufwärts in dem neugegründeten Kloster die Nähnadeln und die Schere führen: lediglich in mechanischer Thätigkeit. Aus den Zellen unsrer künstlerischen Nonnen gehen Christusbilder, Johannesköpfe und Magdalenen- und Marien-Gestalten hervor, wie aus dem benachbarten Kloster Kattunschürzen, Florhäubchen und gestickte Mieder hervorgehen; es ist dies ein Zweig der Handgeschicklichkeit wie jeder andre. Rußland hat in seinen zahllosen Kirchen und Klöstern eine Unmasse von Heiligenbildern nöthig; dazu kommt, daß jede Privatwohnung, von dem Palast des russischen Großen an bis in die Hütte des Bauern hinab, eines "Obras" (Heiligenbildes) bedarf, und um den Bestellungen und Nachfragen zu genügen, sind hier und da im Lande Heiligenbilderfabriken ange- In der Nähe von Kiew befindet sich ein Nonnenkloster, dessen Bewohnerinnen sämmtlich Malerinnen sind; doch möchten sie schwerlich vor dem Richterstuhle der Kunstkritik Gnade finden. Diese einsamen und in strenger Zurückgezogenheit lebenden Religiosen führen den Pinsel und die Palette, wie ihre Schwestern wenige Meilen aufwärts in dem neugegründeten Kloster die Nähnadeln und die Schere führen: lediglich in mechanischer Thätigkeit. Aus den Zellen unsrer künstlerischen Nonnen gehen Christusbilder, Johannesköpfe und Magdalenen- und Marien-Gestalten hervor, wie aus dem benachbarten Kloster Kattunschürzen, Florhäubchen und gestickte Mieder hervorgehen; es ist dies ein Zweig der Handgeschicklichkeit wie jeder andre. Rußland hat in seinen zahllosen Kirchen und Klöstern eine Unmasse von Heiligenbildern nöthig; dazu kommt, daß jede Privatwohnung, von dem Palast des russischen Großen an bis in die Hütte des Bauern hinab, eines „Obras“ (Heiligenbildes) bedarf, und um den Bestellungen und Nachfragen zu genügen, sind hier und da im Lande Heiligenbilderfabriken ange- <TEI> <text> <pb facs="#f0007"/> <body> <div n="1"> <p>In der Nähe von Kiew befindet sich ein Nonnenkloster, dessen Bewohnerinnen sämmtlich Malerinnen sind; doch möchten sie schwerlich vor dem Richterstuhle der Kunstkritik Gnade finden. Diese einsamen und in strenger Zurückgezogenheit lebenden Religiosen führen den Pinsel und die Palette, wie ihre Schwestern wenige Meilen aufwärts in dem neugegründeten Kloster die Nähnadeln und die Schere führen: lediglich in mechanischer Thätigkeit. Aus den Zellen unsrer künstlerischen Nonnen gehen Christusbilder, Johannesköpfe und Magdalenen- und Marien-Gestalten hervor, wie aus dem benachbarten Kloster Kattunschürzen, Florhäubchen und gestickte Mieder hervorgehen; es ist dies ein Zweig der Handgeschicklichkeit wie jeder andre. Rußland hat in seinen zahllosen Kirchen und Klöstern eine Unmasse von Heiligenbildern nöthig; dazu kommt, daß jede Privatwohnung, von dem Palast des russischen Großen an bis in die Hütte des Bauern hinab, eines „Obras“ (Heiligenbildes) bedarf, und um den Bestellungen und Nachfragen zu genügen, sind hier und da im Lande Heiligenbilderfabriken ange-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0007]
In der Nähe von Kiew befindet sich ein Nonnenkloster, dessen Bewohnerinnen sämmtlich Malerinnen sind; doch möchten sie schwerlich vor dem Richterstuhle der Kunstkritik Gnade finden. Diese einsamen und in strenger Zurückgezogenheit lebenden Religiosen führen den Pinsel und die Palette, wie ihre Schwestern wenige Meilen aufwärts in dem neugegründeten Kloster die Nähnadeln und die Schere führen: lediglich in mechanischer Thätigkeit. Aus den Zellen unsrer künstlerischen Nonnen gehen Christusbilder, Johannesköpfe und Magdalenen- und Marien-Gestalten hervor, wie aus dem benachbarten Kloster Kattunschürzen, Florhäubchen und gestickte Mieder hervorgehen; es ist dies ein Zweig der Handgeschicklichkeit wie jeder andre. Rußland hat in seinen zahllosen Kirchen und Klöstern eine Unmasse von Heiligenbildern nöthig; dazu kommt, daß jede Privatwohnung, von dem Palast des russischen Großen an bis in die Hütte des Bauern hinab, eines „Obras“ (Heiligenbildes) bedarf, und um den Bestellungen und Nachfragen zu genügen, sind hier und da im Lande Heiligenbilderfabriken ange-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/7 |
Zitationshilfe: | Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/7>, abgerufen am 22.07.2024. |