Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Dimitri's Freunde, zu leiten übernommen, hielt in dem Wäldchen am See. Man beschloß, die zwölfte Stunde nicht abzuwarten, weil man den Mond, der um diese Zeit zu scheinen begann, vermeiden wollte. Um die Vesperstunde saßen, wie beim Beginn unserer Erzählung, die drei Nonnen in der untern Halle beisammen; das Winterfeuer fehlte, dagegen stand auf einem schmucklosen Altar eine Vase mit den ersten Frühlingsblumen. Die Abendsonne glühte durch die offenen Fenster herein, und ein leichter Wind spielte mit den kleinen Silberglöckchen der Maiblüten. Die Freundinnen hielten sich wie damals eng umschlossen, ihre Hände ruhten in einander, aber viel fehlte, daß das Herz Scholastika's so friedlich geschlagen hätte, wie in jener Stunde, wo der Flügelschlag des Erdgeistes ihre jungfräuliche Seele noch nicht berührt hatte. Marfa ordnete aus einzelnen Blättern, die vom Blumenstrauße abgefallen waren, einen Kranz, setzte ihn Feodora auf und rief: So sieht eine Braut aus! -- Aber keine schöne, entgegnete Feodora lachend; wenn du eine solche schauen willst, so komm her und sieh! Schnell hatte sie den Kranz auf Scholastika's Schleier gelegt und war bemüht, ihn etwas tiefer zur schönen Stirn herabzudrücken, als sie bemerkte, daß eine Todtenblässe die Wangen ihrer Freundin umzog. Was ist dir? rief sie. -- Nichts! nimm den Kranz ab! entgegnete die Nonne. Du weißt, daß wir ihn nicht tragen dürfen! Ich weiß es, rief die kleine Nonne seufzend. Ach, die Welt da draußen muß doch schön sein; hättest Dimitri's Freunde, zu leiten übernommen, hielt in dem Wäldchen am See. Man beschloß, die zwölfte Stunde nicht abzuwarten, weil man den Mond, der um diese Zeit zu scheinen begann, vermeiden wollte. Um die Vesperstunde saßen, wie beim Beginn unserer Erzählung, die drei Nonnen in der untern Halle beisammen; das Winterfeuer fehlte, dagegen stand auf einem schmucklosen Altar eine Vase mit den ersten Frühlingsblumen. Die Abendsonne glühte durch die offenen Fenster herein, und ein leichter Wind spielte mit den kleinen Silberglöckchen der Maiblüten. Die Freundinnen hielten sich wie damals eng umschlossen, ihre Hände ruhten in einander, aber viel fehlte, daß das Herz Scholastika's so friedlich geschlagen hätte, wie in jener Stunde, wo der Flügelschlag des Erdgeistes ihre jungfräuliche Seele noch nicht berührt hatte. Marfa ordnete aus einzelnen Blättern, die vom Blumenstrauße abgefallen waren, einen Kranz, setzte ihn Feodora auf und rief: So sieht eine Braut aus! — Aber keine schöne, entgegnete Feodora lachend; wenn du eine solche schauen willst, so komm her und sieh! Schnell hatte sie den Kranz auf Scholastika's Schleier gelegt und war bemüht, ihn etwas tiefer zur schönen Stirn herabzudrücken, als sie bemerkte, daß eine Todtenblässe die Wangen ihrer Freundin umzog. Was ist dir? rief sie. — Nichts! nimm den Kranz ab! entgegnete die Nonne. Du weißt, daß wir ihn nicht tragen dürfen! Ich weiß es, rief die kleine Nonne seufzend. Ach, die Welt da draußen muß doch schön sein; hättest <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0067"/> Dimitri's Freunde, zu leiten übernommen, hielt in dem Wäldchen am See. Man beschloß, die zwölfte Stunde nicht abzuwarten, weil man den Mond, der um diese Zeit zu scheinen begann, vermeiden wollte. Um die Vesperstunde saßen, wie beim Beginn unserer Erzählung, die drei Nonnen in der untern Halle beisammen; das Winterfeuer fehlte, dagegen stand auf einem schmucklosen Altar eine Vase mit den ersten Frühlingsblumen. Die Abendsonne glühte durch die offenen Fenster herein, und ein leichter Wind spielte mit den kleinen Silberglöckchen der Maiblüten. Die Freundinnen hielten sich wie damals eng umschlossen, ihre Hände ruhten in einander, aber viel fehlte, daß das Herz Scholastika's so friedlich geschlagen hätte, wie in jener Stunde, wo der Flügelschlag des Erdgeistes ihre jungfräuliche Seele noch nicht berührt hatte. Marfa ordnete aus einzelnen Blättern, die vom Blumenstrauße abgefallen waren, einen Kranz, setzte ihn Feodora auf und rief: So sieht eine Braut aus! — Aber keine schöne, entgegnete Feodora lachend; wenn du eine solche schauen willst, so komm her und sieh! Schnell hatte sie den Kranz auf Scholastika's Schleier gelegt und war bemüht, ihn etwas tiefer zur schönen Stirn herabzudrücken, als sie bemerkte, daß eine Todtenblässe die Wangen ihrer Freundin umzog. Was ist dir? rief sie. — Nichts! nimm den Kranz ab! entgegnete die Nonne. Du weißt, daß wir ihn nicht tragen dürfen! Ich weiß es, rief die kleine Nonne seufzend. Ach, die Welt da draußen muß doch schön sein; hättest<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0067]
Dimitri's Freunde, zu leiten übernommen, hielt in dem Wäldchen am See. Man beschloß, die zwölfte Stunde nicht abzuwarten, weil man den Mond, der um diese Zeit zu scheinen begann, vermeiden wollte. Um die Vesperstunde saßen, wie beim Beginn unserer Erzählung, die drei Nonnen in der untern Halle beisammen; das Winterfeuer fehlte, dagegen stand auf einem schmucklosen Altar eine Vase mit den ersten Frühlingsblumen. Die Abendsonne glühte durch die offenen Fenster herein, und ein leichter Wind spielte mit den kleinen Silberglöckchen der Maiblüten. Die Freundinnen hielten sich wie damals eng umschlossen, ihre Hände ruhten in einander, aber viel fehlte, daß das Herz Scholastika's so friedlich geschlagen hätte, wie in jener Stunde, wo der Flügelschlag des Erdgeistes ihre jungfräuliche Seele noch nicht berührt hatte. Marfa ordnete aus einzelnen Blättern, die vom Blumenstrauße abgefallen waren, einen Kranz, setzte ihn Feodora auf und rief: So sieht eine Braut aus! — Aber keine schöne, entgegnete Feodora lachend; wenn du eine solche schauen willst, so komm her und sieh! Schnell hatte sie den Kranz auf Scholastika's Schleier gelegt und war bemüht, ihn etwas tiefer zur schönen Stirn herabzudrücken, als sie bemerkte, daß eine Todtenblässe die Wangen ihrer Freundin umzog. Was ist dir? rief sie. — Nichts! nimm den Kranz ab! entgegnete die Nonne. Du weißt, daß wir ihn nicht tragen dürfen! Ich weiß es, rief die kleine Nonne seufzend. Ach, die Welt da draußen muß doch schön sein; hättest
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Zitationshilfe: | Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/67>, abgerufen am 27.07.2024. |