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Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Nach dieser ernsten Weisung war keine Minute des Zögerns möglich. Scholastika betrat die einsame, halbverfallene Galerie, wo sie die Gerüste aufgestellt fand, die Copie auf der Staffelei, kein menschliches Wesen jedoch zu sehen. Mit Mühe erkletterte der ungeübte Fuß die schwankende Leiter und erschöpft ließ sich die einsame Kunstrichterin vor dem Bilde nieder. Aber wie ward ihr, als farbenglühend, im Zauber der blühendsten Kunst ein schönes, edles Meisterwerk vor ihren Blicken erglänzte. Sie hatte nie die Werke der Meister gesehen, ihr waren nie andere Bilder vor Augen gekommen als die, die im Kloster gefertigt wurden; ihre Phantasie hatte daher keine Vorstellungen von dem, was die ärmlichen, irdischen Mittel in der Macht wunderbegabter Geister zu wirken vermochten. Staunend, mit verhaltenem Athem, die Hände wie zum Gebet gefaltet, saß sie da, und ihre Blicke sogen, wie das Auge des aus der Blindheit Erwachten das Licht gierig einsaugt, so hier die Fülle der Schönheit ein. Es ist schon bemerkt worden, daß auf dem Originalbilde auch dem schärfsten Auge nichts als eine schwarze Fläche sichtbar war, der Künstler hatte also offenbar das Bild des heiligen Drachenbekämpfers aus eigner Phantasie hingestellt. Scholastika's Bewunderung wurde hierdurch maßlos gesteigert. All ihr Träumen, Wollen und Vollbringen bewegte sich leidenschaftlich wild in ihrem innern Sinne durcheinander; ein einziger Blitz des Genies, in dieses dunkle Chaos geschleudert, erhellte die streitenden Kräfte. Früher hatte

Nach dieser ernsten Weisung war keine Minute des Zögerns möglich. Scholastika betrat die einsame, halbverfallene Galerie, wo sie die Gerüste aufgestellt fand, die Copie auf der Staffelei, kein menschliches Wesen jedoch zu sehen. Mit Mühe erkletterte der ungeübte Fuß die schwankende Leiter und erschöpft ließ sich die einsame Kunstrichterin vor dem Bilde nieder. Aber wie ward ihr, als farbenglühend, im Zauber der blühendsten Kunst ein schönes, edles Meisterwerk vor ihren Blicken erglänzte. Sie hatte nie die Werke der Meister gesehen, ihr waren nie andere Bilder vor Augen gekommen als die, die im Kloster gefertigt wurden; ihre Phantasie hatte daher keine Vorstellungen von dem, was die ärmlichen, irdischen Mittel in der Macht wunderbegabter Geister zu wirken vermochten. Staunend, mit verhaltenem Athem, die Hände wie zum Gebet gefaltet, saß sie da, und ihre Blicke sogen, wie das Auge des aus der Blindheit Erwachten das Licht gierig einsaugt, so hier die Fülle der Schönheit ein. Es ist schon bemerkt worden, daß auf dem Originalbilde auch dem schärfsten Auge nichts als eine schwarze Fläche sichtbar war, der Künstler hatte also offenbar das Bild des heiligen Drachenbekämpfers aus eigner Phantasie hingestellt. Scholastika's Bewunderung wurde hierdurch maßlos gesteigert. All ihr Träumen, Wollen und Vollbringen bewegte sich leidenschaftlich wild in ihrem innern Sinne durcheinander; ein einziger Blitz des Genies, in dieses dunkle Chaos geschleudert, erhellte die streitenden Kräfte. Früher hatte

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[0049] Nach dieser ernsten Weisung war keine Minute des Zögerns möglich. Scholastika betrat die einsame, halbverfallene Galerie, wo sie die Gerüste aufgestellt fand, die Copie auf der Staffelei, kein menschliches Wesen jedoch zu sehen. Mit Mühe erkletterte der ungeübte Fuß die schwankende Leiter und erschöpft ließ sich die einsame Kunstrichterin vor dem Bilde nieder. Aber wie ward ihr, als farbenglühend, im Zauber der blühendsten Kunst ein schönes, edles Meisterwerk vor ihren Blicken erglänzte. Sie hatte nie die Werke der Meister gesehen, ihr waren nie andere Bilder vor Augen gekommen als die, die im Kloster gefertigt wurden; ihre Phantasie hatte daher keine Vorstellungen von dem, was die ärmlichen, irdischen Mittel in der Macht wunderbegabter Geister zu wirken vermochten. Staunend, mit verhaltenem Athem, die Hände wie zum Gebet gefaltet, saß sie da, und ihre Blicke sogen, wie das Auge des aus der Blindheit Erwachten das Licht gierig einsaugt, so hier die Fülle der Schönheit ein. Es ist schon bemerkt worden, daß auf dem Originalbilde auch dem schärfsten Auge nichts als eine schwarze Fläche sichtbar war, der Künstler hatte also offenbar das Bild des heiligen Drachenbekämpfers aus eigner Phantasie hingestellt. Scholastika's Bewunderung wurde hierdurch maßlos gesteigert. All ihr Träumen, Wollen und Vollbringen bewegte sich leidenschaftlich wild in ihrem innern Sinne durcheinander; ein einziger Blitz des Genies, in dieses dunkle Chaos geschleudert, erhellte die streitenden Kräfte. Früher hatte

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Zitationshilfe: Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/49>, abgerufen am 24.11.2024.