Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Schaffnerin, die da kam, um das fertige Bild in eine Kiste einschließen zu lassen. Laßt es mich noch einmal sehen, Schwester! rief Scholastika; es ist vielleicht mein letztes Bild. Woher dein letztes? fragte die Nonne streng. Zürne mir nicht, entgegnete die Bebende; kann nicht ein schneller Tod Mich dahinraffen? Thorheit! dein Ansehen zeugt von Gesundheit und Leben. Man brachte das geliebte Bild fort; eine Thräne perlte in Scholastika's Augen. In diesem Moment drangen Marfa und Feodora herein. Die Erstere hielt lachend ein Blatt Papier empor, das sie Scholastika vorwies, doch erst als sie sicher war, die strenge Schaffnerin könne sie nicht mehr hören. Was ist das? fragte die Nonne. O allerliebst! riefen beide Mädchen zusammen: ein Zerrbild ist es! Sieh nur; man möchte vor Lachen krank werden, wenn man es betrachtet. Zwei junge Cavaliere, die in der Frühmette in unserer Kirche waren, haben es verloren. Es lag an der sechsten Säule vom Altar ab. Das Blatt zeigt die Portraits der Schwestern Sofia und Eudoria, unsere beiden Aeltesten, die in einen süßen Schlaf versunken sind. Kann man etwas Ergötzlicheres sehen? Scholastika nahm das Blatt und zerriß es, indem sie rief: Du machst mir Kummer, Feodora, daß du so traurige und armselige Dinge aufzeigst und belachst. Marfa, dein Sinn ist äußerst kindisch und verwahrlos't!-- Die beiden Gescholtenen sahen sich Schaffnerin, die da kam, um das fertige Bild in eine Kiste einschließen zu lassen. Laßt es mich noch einmal sehen, Schwester! rief Scholastika; es ist vielleicht mein letztes Bild. Woher dein letztes? fragte die Nonne streng. Zürne mir nicht, entgegnete die Bebende; kann nicht ein schneller Tod Mich dahinraffen? Thorheit! dein Ansehen zeugt von Gesundheit und Leben. Man brachte das geliebte Bild fort; eine Thräne perlte in Scholastika's Augen. In diesem Moment drangen Marfa und Feodora herein. Die Erstere hielt lachend ein Blatt Papier empor, das sie Scholastika vorwies, doch erst als sie sicher war, die strenge Schaffnerin könne sie nicht mehr hören. Was ist das? fragte die Nonne. O allerliebst! riefen beide Mädchen zusammen: ein Zerrbild ist es! Sieh nur; man möchte vor Lachen krank werden, wenn man es betrachtet. Zwei junge Cavaliere, die in der Frühmette in unserer Kirche waren, haben es verloren. Es lag an der sechsten Säule vom Altar ab. Das Blatt zeigt die Portraits der Schwestern Sofia und Eudoria, unsere beiden Aeltesten, die in einen süßen Schlaf versunken sind. Kann man etwas Ergötzlicheres sehen? Scholastika nahm das Blatt und zerriß es, indem sie rief: Du machst mir Kummer, Feodora, daß du so traurige und armselige Dinge aufzeigst und belachst. Marfa, dein Sinn ist äußerst kindisch und verwahrlos't!— Die beiden Gescholtenen sahen sich <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0040"/> Schaffnerin, die da kam, um das fertige Bild in eine Kiste einschließen zu lassen.</p><lb/> <p>Laßt es mich noch einmal sehen, Schwester! rief Scholastika; es ist vielleicht mein letztes Bild.</p><lb/> <p>Woher dein letztes? fragte die Nonne streng.</p><lb/> <p>Zürne mir nicht, entgegnete die Bebende; kann nicht ein schneller Tod Mich dahinraffen?</p><lb/> <p>Thorheit! dein Ansehen zeugt von Gesundheit und Leben.</p><lb/> <p>Man brachte das geliebte Bild fort; eine Thräne perlte in Scholastika's Augen. In diesem Moment drangen Marfa und Feodora herein. Die Erstere hielt lachend ein Blatt Papier empor, das sie Scholastika vorwies, doch erst als sie sicher war, die strenge Schaffnerin könne sie nicht mehr hören. Was ist das? fragte die Nonne. O allerliebst! riefen beide Mädchen zusammen: ein Zerrbild ist es! Sieh nur; man möchte vor Lachen krank werden, wenn man es betrachtet. Zwei junge Cavaliere, die in der Frühmette in unserer Kirche waren, haben es verloren. Es lag an der sechsten Säule vom Altar ab. Das Blatt zeigt die Portraits der Schwestern Sofia und Eudoria, unsere beiden Aeltesten, die in einen süßen Schlaf versunken sind. Kann man etwas Ergötzlicheres sehen? Scholastika nahm das Blatt und zerriß es, indem sie rief: Du machst mir Kummer, Feodora, daß du so traurige und armselige Dinge aufzeigst und belachst. Marfa, dein Sinn ist äußerst kindisch und verwahrlos't!— Die beiden Gescholtenen sahen sich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0040]
Schaffnerin, die da kam, um das fertige Bild in eine Kiste einschließen zu lassen.
Laßt es mich noch einmal sehen, Schwester! rief Scholastika; es ist vielleicht mein letztes Bild.
Woher dein letztes? fragte die Nonne streng.
Zürne mir nicht, entgegnete die Bebende; kann nicht ein schneller Tod Mich dahinraffen?
Thorheit! dein Ansehen zeugt von Gesundheit und Leben.
Man brachte das geliebte Bild fort; eine Thräne perlte in Scholastika's Augen. In diesem Moment drangen Marfa und Feodora herein. Die Erstere hielt lachend ein Blatt Papier empor, das sie Scholastika vorwies, doch erst als sie sicher war, die strenge Schaffnerin könne sie nicht mehr hören. Was ist das? fragte die Nonne. O allerliebst! riefen beide Mädchen zusammen: ein Zerrbild ist es! Sieh nur; man möchte vor Lachen krank werden, wenn man es betrachtet. Zwei junge Cavaliere, die in der Frühmette in unserer Kirche waren, haben es verloren. Es lag an der sechsten Säule vom Altar ab. Das Blatt zeigt die Portraits der Schwestern Sofia und Eudoria, unsere beiden Aeltesten, die in einen süßen Schlaf versunken sind. Kann man etwas Ergötzlicheres sehen? Scholastika nahm das Blatt und zerriß es, indem sie rief: Du machst mir Kummer, Feodora, daß du so traurige und armselige Dinge aufzeigst und belachst. Marfa, dein Sinn ist äußerst kindisch und verwahrlos't!— Die beiden Gescholtenen sahen sich
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Zitationshilfe: | Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–102. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ungern_scholastika_1910/40>, abgerufen am 16.02.2025. |