Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815.Jung Roland, Sohn des Milon, sprach: "Lieb Vater! hört, ich bitte! Vermeint Ihr mich zu jung und schwach, Daß ich mit Riesen stritte, Doch bin ich nicht zu winzig mehr, Euch nachzutragen Euern Speer Sammt Eurem guten Schilde." Die sechs Genossen ritten bald Vereint nach den Ardennen, Doch als sie kamen in den Wald, Da thäten sie sich trennen. Roland ritt hinter'm Vater her; Wie wohl ihm war, des Helden Speer, Des Helden Schild zu tragen! Bei Sonnenschein und Mondenlicht Streiften die kühnen Degen, Doch fanden sie den Riesen nicht In Felsen noch Gehegen. Zur Mittagsstund' am vierten Tag Der Herzog Milon schlafen lag In einer Eiche Schatten. Roland sah in der Ferne bald Ein Blitzen und ein Leuchten, Davon die Stralen in dem Wald Die Hirsch' und Reh' aufscheuchten; Er sah, es kam von einem Schild, Den trug ein Riese, groß und wild, Vom Berge niedersteigend. Jung Roland, Sohn des Milon, ſprach: „Lieb Vater! hört, ich bitte! Vermeint Ihr mich zu jung und ſchwach, Daß ich mit Rieſen ſtritte, Doch bin ich nicht zu winzig mehr, Euch nachzutragen Euern Speer Sammt Eurem guten Schilde.“ Die ſechs Genoſſen ritten bald Vereint nach den Ardennen, Doch als ſie kamen in den Wald, Da thäten ſie ſich trennen. Roland ritt hinter’m Vater her; Wie wohl ihm war, des Helden Speer, Des Helden Schild zu tragen! Bei Sonnenſchein und Mondenlicht Streiften die kühnen Degen, Doch fanden ſie den Rieſen nicht In Felſen noch Gehegen. Zur Mittagsſtund’ am vierten Tag Der Herzog Milon ſchlafen lag In einer Eiche Schatten. Roland ſah in der Ferne bald Ein Blitzen und ein Leuchten, Davon die Stralen in dem Wald Die Hirſch’ und Reh’ aufſcheuchten; Er ſah, es kam von einem Schild, Den trug ein Rieſe, groß und wild, Vom Berge niederſteigend. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0306" n="300"/> <lg n="4"> <l>Jung Roland, Sohn des Milon, ſprach:</l><lb/> <l>„Lieb Vater! hört, ich bitte!</l><lb/> <l>Vermeint Ihr mich zu jung und ſchwach,</l><lb/> <l>Daß ich mit Rieſen ſtritte,</l><lb/> <l>Doch bin ich nicht zu winzig mehr,</l><lb/> <l>Euch nachzutragen Euern Speer</l><lb/> <l>Sammt Eurem guten Schilde.“</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Die ſechs Genoſſen ritten bald</l><lb/> <l>Vereint nach den Ardennen,</l><lb/> <l>Doch als ſie kamen in den Wald,</l><lb/> <l>Da thäten ſie ſich trennen.</l><lb/> <l>Roland ritt hinter’m Vater her;</l><lb/> <l>Wie wohl ihm war, des Helden Speer,</l><lb/> <l>Des Helden Schild zu tragen!</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Bei Sonnenſchein und Mondenlicht</l><lb/> <l>Streiften die kühnen Degen,</l><lb/> <l>Doch fanden ſie den Rieſen nicht</l><lb/> <l>In Felſen noch Gehegen.</l><lb/> <l>Zur Mittagsſtund’ am vierten Tag</l><lb/> <l>Der Herzog Milon ſchlafen lag</l><lb/> <l>In einer Eiche Schatten.</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Roland ſah in der Ferne bald</l><lb/> <l>Ein Blitzen und ein Leuchten,</l><lb/> <l>Davon die Stralen in dem Wald</l><lb/> <l>Die Hirſch’ und Reh’ aufſcheuchten;</l><lb/> <l>Er ſah, es kam von einem Schild,</l><lb/> <l>Den trug ein Rieſe, groß und wild,</l><lb/> <l>Vom Berge niederſteigend.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [300/0306]
Jung Roland, Sohn des Milon, ſprach:
„Lieb Vater! hört, ich bitte!
Vermeint Ihr mich zu jung und ſchwach,
Daß ich mit Rieſen ſtritte,
Doch bin ich nicht zu winzig mehr,
Euch nachzutragen Euern Speer
Sammt Eurem guten Schilde.“
Die ſechs Genoſſen ritten bald
Vereint nach den Ardennen,
Doch als ſie kamen in den Wald,
Da thäten ſie ſich trennen.
Roland ritt hinter’m Vater her;
Wie wohl ihm war, des Helden Speer,
Des Helden Schild zu tragen!
Bei Sonnenſchein und Mondenlicht
Streiften die kühnen Degen,
Doch fanden ſie den Rieſen nicht
In Felſen noch Gehegen.
Zur Mittagsſtund’ am vierten Tag
Der Herzog Milon ſchlafen lag
In einer Eiche Schatten.
Roland ſah in der Ferne bald
Ein Blitzen und ein Leuchten,
Davon die Stralen in dem Wald
Die Hirſch’ und Reh’ aufſcheuchten;
Er ſah, es kam von einem Schild,
Den trug ein Rieſe, groß und wild,
Vom Berge niederſteigend.
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Zitationshilfe: | Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/uhland_gedichte_1815/306>, abgerufen am 16.07.2024. |