Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815.Der Wirthin Töchterlein. Es zogen drei Bursche wohl über den Rhein, Bei einer Frau Wirthin, da kehrten sie ein. "Frau Wirthin! hat sie gut Bier und Wein? Wo hat sie ihr schönes Töchterlein?" "Mein Bier und Wein ist frisch und klar, Mein Töchterlein liegt auf der Todtenbahr." Und als sie traten zur Kammer hinein, Da lag sie in einem schwarzen Schrein. Der erste, der schlug den Schleier zurück Und schaute sie an mit traurigem Blick: "Ach lebtest du noch, du schöne Maid! Ich würde dich lieben von dieser Zeit." Der zweite deckte den Schleier zu, Und kehrte sich ab, und weinte dazu: "Ach! daß du liegst auf der Todtenbahr! Ich hab' dich geliebet so manches Jahr." Der dritte hub ihn wieder sogleich, Und küßte sie an den Mund so bleich: "Dich liebt' ich immer, dich lieb' ich noch heut, Und werde dich lieben in Ewigkeit." Der Wirthin Töchterlein. Es zogen drei Burſche wohl über den Rhein, Bei einer Frau Wirthin, da kehrten ſie ein. „Frau Wirthin! hat ſie gut Bier und Wein? Wo hat ſie ihr ſchönes Töchterlein?“ „Mein Bier und Wein iſt friſch und klar, Mein Töchterlein liegt auf der Todtenbahr.“ Und als ſie traten zur Kammer hinein, Da lag ſie in einem ſchwarzen Schrein. Der erſte, der ſchlug den Schleier zurück Und ſchaute ſie an mit traurigem Blick: „Ach lebteſt du noch, du ſchöne Maid! Ich würde dich lieben von dieſer Zeit.“ Der zweite deckte den Schleier zu, Und kehrte ſich ab, und weinte dazu: „Ach! daß du liegſt auf der Todtenbahr! Ich hab’ dich geliebet ſo manches Jahr.“ Der dritte hub ihn wieder ſogleich, Und küßte ſie an den Mund ſo bleich: „Dich liebt’ ich immer, dich lieb’ ich noch heut, Und werde dich lieben in Ewigkeit.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0214" n="208"/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Der Wirthin Töchterlein</hi>.</head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Es zogen drei Burſche wohl über den Rhein,</l><lb/> <l>Bei einer Frau Wirthin, da kehrten ſie ein.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>„Frau Wirthin! hat ſie gut Bier und Wein?</l><lb/> <l>Wo hat ſie ihr ſchönes Töchterlein?“</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>„Mein Bier und Wein iſt friſch und klar,</l><lb/> <l>Mein Töchterlein liegt auf der Todtenbahr.“</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Und als ſie traten zur Kammer hinein,</l><lb/> <l>Da lag ſie in einem ſchwarzen Schrein.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Der erſte, der ſchlug den Schleier zurück</l><lb/> <l>Und ſchaute ſie an mit traurigem Blick:</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>„Ach lebteſt du noch, du ſchöne Maid!</l><lb/> <l>Ich würde dich lieben von dieſer Zeit.“</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Der zweite deckte den Schleier zu,</l><lb/> <l>Und kehrte ſich ab, und weinte dazu:</l> </lg><lb/> <lg n="8"> <l>„Ach! daß du liegſt auf der Todtenbahr!</l><lb/> <l>Ich hab’ dich geliebet ſo manches Jahr.“</l> </lg><lb/> <lg n="9"> <l>Der dritte hub ihn wieder ſogleich,</l><lb/> <l>Und küßte ſie an den Mund ſo bleich:</l> </lg><lb/> <lg n="10"> <l>„Dich liebt’ ich immer, dich lieb’ ich noch heut,</l><lb/> <l>Und werde dich lieben in Ewigkeit.“</l> </lg> </lg> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [208/0214]
Der Wirthin Töchterlein.
Es zogen drei Burſche wohl über den Rhein,
Bei einer Frau Wirthin, da kehrten ſie ein.
„Frau Wirthin! hat ſie gut Bier und Wein?
Wo hat ſie ihr ſchönes Töchterlein?“
„Mein Bier und Wein iſt friſch und klar,
Mein Töchterlein liegt auf der Todtenbahr.“
Und als ſie traten zur Kammer hinein,
Da lag ſie in einem ſchwarzen Schrein.
Der erſte, der ſchlug den Schleier zurück
Und ſchaute ſie an mit traurigem Blick:
„Ach lebteſt du noch, du ſchöne Maid!
Ich würde dich lieben von dieſer Zeit.“
Der zweite deckte den Schleier zu,
Und kehrte ſich ab, und weinte dazu:
„Ach! daß du liegſt auf der Todtenbahr!
Ich hab’ dich geliebet ſo manches Jahr.“
Der dritte hub ihn wieder ſogleich,
Und küßte ſie an den Mund ſo bleich:
„Dich liebt’ ich immer, dich lieb’ ich noch heut,
Und werde dich lieben in Ewigkeit.“
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Zitationshilfe: | Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/uhland_gedichte_1815/214>, abgerufen am 19.07.2024. |