Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 6. Göttingen, 1822.

Bild:
<< vorherige Seite

Sensorium bey der Aufnahme der Gesichtsein-
drücke zu suchen. Die Sinnesorgane sind nicht
blos den Worten nach, sondern in der That
Werkzeuge, Mittel für den Geist zu dessen
Zwecken. Er schauet nicht leidend durch sie
die äussere Welt an, sondern assimilirt sich die
Eindrücke, die ihm durch sie gegeben werden.
Bedingungen dieser Assimilation sind: unbe-
schränkte Herrschaft des Geistes über jene Or-
gane und ungeschwächte Selbstthätigkeit dessel-
ben. Ist jene aufgehoben, entweder weil eine
äussere Gewalt den Willen hindert, sich des
Auges seinen Absichten gemäss zu bedienen,
oder weil dieses Organ krankhafte Veränderun-
gen erlitten hat, so tritt Doppeltsehen ein.
Aber dieselbe Duplicität entsteht auch, wenn
die Selbstthätigkeit des Sensorium in der Trun-
kenheit, beym Schwindel, oder in Gemüths-
krankheiten geschwächt ist, oder wenn das
Auge, unbeherrscht vom Geiste, hinstarret, ohne
einen einzelnen Gegenstand zu fixiren, während
der innere Sinn in sich selber zurückgezogen
ist. Ist die Selbstthätigkeit an sich ungeschwächt,
aber durch eine Unvollkommenheit des Auges
beschränkt, so vermag sie sogar die Beschrän-
kung, die anfangs Doppeltsehen verursachte,
nach und nach wieder aufzuheben. So findet
beym Schielen in der ersten Zeit oft Duplicität
der Bilder statt; aber in der Folge werden die

Gegen-
O o 2

Sensorium bey der Aufnahme der Gesichtsein-
drücke zu suchen. Die Sinnesorgane sind nicht
blos den Worten nach, sondern in der That
Werkzeuge, Mittel für den Geist zu dessen
Zwecken. Er schauet nicht leidend durch sie
die äuſsere Welt an, sondern assimilirt sich die
Eindrücke, die ihm durch sie gegeben werden.
Bedingungen dieser Assimilation sind: unbe-
schränkte Herrschaft des Geistes über jene Or-
gane und ungeschwächte Selbstthätigkeit dessel-
ben. Ist jene aufgehoben, entweder weil eine
äuſsere Gewalt den Willen hindert, sich des
Auges seinen Absichten gemäſs zu bedienen,
oder weil dieses Organ krankhafte Veränderun-
gen erlitten hat, so tritt Doppeltsehen ein.
Aber dieselbe Duplicität entsteht auch, wenn
die Selbstthätigkeit des Sensorium in der Trun-
kenheit, beym Schwindel, oder in Gemüths-
krankheiten geschwächt ist, oder wenn das
Auge, unbeherrscht vom Geiste, hinstarret, ohne
einen einzelnen Gegenstand zu fixiren, während
der innere Sinn in sich selber zurückgezogen
ist. Ist die Selbstthätigkeit an sich ungeschwächt,
aber durch eine Unvollkommenheit des Auges
beschränkt, so vermag sie sogar die Beschrän-
kung, die anfangs Doppeltsehen verursachte,
nach und nach wieder aufzuheben. So findet
beym Schielen in der ersten Zeit oft Duplicität
der Bilder statt; aber in der Folge werden die

Gegen-
O o 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0595" n="573"/>
Sensorium bey der Aufnahme der Gesichtsein-<lb/>
drücke zu suchen. Die Sinnesorgane sind nicht<lb/>
blos den Worten nach, sondern in der That<lb/><hi rendition="#g">Werkzeuge</hi>, Mittel für den Geist zu dessen<lb/>
Zwecken. Er schauet nicht leidend durch sie<lb/>
die äu&#x017F;sere Welt an, sondern assimilirt sich die<lb/>
Eindrücke, die ihm durch sie gegeben werden.<lb/>
Bedingungen dieser Assimilation sind: unbe-<lb/>
schränkte Herrschaft des Geistes über jene Or-<lb/>
gane und ungeschwächte Selbstthätigkeit dessel-<lb/>
ben. Ist jene aufgehoben, entweder weil eine<lb/>
äu&#x017F;sere Gewalt den Willen hindert, sich des<lb/>
Auges seinen Absichten gemä&#x017F;s zu bedienen,<lb/>
oder weil dieses Organ krankhafte Veränderun-<lb/>
gen erlitten hat, so tritt Doppeltsehen ein.<lb/>
Aber dieselbe Duplicität entsteht auch, wenn<lb/>
die Selbstthätigkeit des Sensorium in der Trun-<lb/>
kenheit, beym Schwindel, oder in Gemüths-<lb/>
krankheiten geschwächt ist, oder wenn das<lb/>
Auge, unbeherrscht vom Geiste, hinstarret, ohne<lb/>
einen einzelnen Gegenstand zu fixiren, während<lb/>
der innere Sinn in sich selber zurückgezogen<lb/>
ist. Ist die Selbstthätigkeit an sich ungeschwächt,<lb/>
aber durch eine Unvollkommenheit des Auges<lb/>
beschränkt, so vermag sie sogar die Beschrän-<lb/>
kung, die anfangs Doppeltsehen verursachte,<lb/>
nach und nach wieder aufzuheben. So findet<lb/>
beym Schielen in der ersten Zeit oft Duplicität<lb/>
der Bilder statt; aber in der Folge werden die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O o 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Gegen-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[573/0595] Sensorium bey der Aufnahme der Gesichtsein- drücke zu suchen. Die Sinnesorgane sind nicht blos den Worten nach, sondern in der That Werkzeuge, Mittel für den Geist zu dessen Zwecken. Er schauet nicht leidend durch sie die äuſsere Welt an, sondern assimilirt sich die Eindrücke, die ihm durch sie gegeben werden. Bedingungen dieser Assimilation sind: unbe- schränkte Herrschaft des Geistes über jene Or- gane und ungeschwächte Selbstthätigkeit dessel- ben. Ist jene aufgehoben, entweder weil eine äuſsere Gewalt den Willen hindert, sich des Auges seinen Absichten gemäſs zu bedienen, oder weil dieses Organ krankhafte Veränderun- gen erlitten hat, so tritt Doppeltsehen ein. Aber dieselbe Duplicität entsteht auch, wenn die Selbstthätigkeit des Sensorium in der Trun- kenheit, beym Schwindel, oder in Gemüths- krankheiten geschwächt ist, oder wenn das Auge, unbeherrscht vom Geiste, hinstarret, ohne einen einzelnen Gegenstand zu fixiren, während der innere Sinn in sich selber zurückgezogen ist. Ist die Selbstthätigkeit an sich ungeschwächt, aber durch eine Unvollkommenheit des Auges beschränkt, so vermag sie sogar die Beschrän- kung, die anfangs Doppeltsehen verursachte, nach und nach wieder aufzuheben. So findet beym Schielen in der ersten Zeit oft Duplicität der Bilder statt; aber in der Folge werden die Gegen- O o 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie06_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie06_1822/595
Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 6. Göttingen, 1822, S. 573. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie06_1822/595>, abgerufen am 16.07.2024.