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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 6. Göttingen, 1822.

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bewusst ist, die Phantasie sich ein Bild schafft,
das der Ursache des Eindrucks ähnlich ist, so
könnte es auch Fälle geben, wo ein äusserer,
nicht zum Bewusstseyn gelangender Eindruck
die Entstehung eines Bildes veranlasste, das der
einwirkenden Ursache nicht blos ähnlich, son-
dern selbst gleich wäre. Solche Fälle finden im
Schlafwandel statt, und diesem ist der Zustand
des instinktmässig handelnden Thiers verwandt.
Dem innern Sinn des Schlafwandlers schweben
seine Umgebungen vor, obgleich seine äussern
Sinne verschlossen sind: denn er handelt auf
gleiche Weise und selbst mit grösserer Sicher-
heit, wie der Hörende und Sehende. So sieht der
Vogel, in welchem der Wanderungstrieb er-
wacht, das ferne Land vor dem innern Auge,
ohnerachtet seine äussern Sinne von keinen Ein-
drücken getroffen werden, welche dieses Gesicht
verursachen könnten. Sein Zustand ist der des
Heimwehs, aber des Sehnens nach einer Hei-
math, die er, wenn jener Trieb zum ersten mal
in ihm erwacht, nur aus traumartigen Bildern
kennt. Seine äussern Sinne schlafen zwar nicht,
wie die des Schlafwandlers, während er den
ihm vorschwebenden Phantasien gemäss handelt.
Aber sein Handeln bezieht sich auch nicht, wie
das des letztern, auf die Gegenwart, sondern
auf die Zukunft, und es ist nicht unwahrschein-
lich, dass auch bey dem Vogel und überhaupt

bey

bewuſst ist, die Phantasie sich ein Bild schafft,
das der Ursache des Eindrucks ähnlich ist, so
könnte es auch Fälle geben, wo ein äuſserer,
nicht zum Bewuſstseyn gelangender Eindruck
die Entstehung eines Bildes veranlaſste, das der
einwirkenden Ursache nicht blos ähnlich, son-
dern selbst gleich wäre. Solche Fälle finden im
Schlafwandel statt, und diesem ist der Zustand
des instinktmäſsig handelnden Thiers verwandt.
Dem innern Sinn des Schlafwandlers schweben
seine Umgebungen vor, obgleich seine äuſsern
Sinne verschlossen sind: denn er handelt auf
gleiche Weise und selbst mit gröſserer Sicher-
heit, wie der Hörende und Sehende. So sieht der
Vogel, in welchem der Wanderungstrieb er-
wacht, das ferne Land vor dem innern Auge,
ohnerachtet seine äuſsern Sinne von keinen Ein-
drücken getroffen werden, welche dieses Gesicht
verursachen könnten. Sein Zustand ist der des
Heimwehs, aber des Sehnens nach einer Hei-
math, die er, wenn jener Trieb zum ersten mal
in ihm erwacht, nur aus traumartigen Bildern
kennt. Seine äuſsern Sinne schlafen zwar nicht,
wie die des Schlafwandlers, während er den
ihm vorschwebenden Phantasien gemäſs handelt.
Aber sein Handeln bezieht sich auch nicht, wie
das des letztern, auf die Gegenwart, sondern
auf die Zukunft, und es ist nicht unwahrschein-
lich, daſs auch bey dem Vogel und überhaupt

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[36/0048] bewuſst ist, die Phantasie sich ein Bild schafft, das der Ursache des Eindrucks ähnlich ist, so könnte es auch Fälle geben, wo ein äuſserer, nicht zum Bewuſstseyn gelangender Eindruck die Entstehung eines Bildes veranlaſste, das der einwirkenden Ursache nicht blos ähnlich, son- dern selbst gleich wäre. Solche Fälle finden im Schlafwandel statt, und diesem ist der Zustand des instinktmäſsig handelnden Thiers verwandt. Dem innern Sinn des Schlafwandlers schweben seine Umgebungen vor, obgleich seine äuſsern Sinne verschlossen sind: denn er handelt auf gleiche Weise und selbst mit gröſserer Sicher- heit, wie der Hörende und Sehende. So sieht der Vogel, in welchem der Wanderungstrieb er- wacht, das ferne Land vor dem innern Auge, ohnerachtet seine äuſsern Sinne von keinen Ein- drücken getroffen werden, welche dieses Gesicht verursachen könnten. Sein Zustand ist der des Heimwehs, aber des Sehnens nach einer Hei- math, die er, wenn jener Trieb zum ersten mal in ihm erwacht, nur aus traumartigen Bildern kennt. Seine äuſsern Sinne schlafen zwar nicht, wie die des Schlafwandlers, während er den ihm vorschwebenden Phantasien gemäſs handelt. Aber sein Handeln bezieht sich auch nicht, wie das des letztern, auf die Gegenwart, sondern auf die Zukunft, und es ist nicht unwahrschein- lich, daſs auch bey dem Vogel und überhaupt bey

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Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 6. Göttingen, 1822, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie06_1822/48>, abgerufen am 24.11.2024.