Südamerika, giebt es ebenfalls Organismen, die ganz das Ansehn von Abkömmlingen verschieden- artiger Stammeltern haben, deren Urformen aber nirgends, als in den nördlichen Gegenden der al- ten Welt existiren. Hier wohnen das Llama und Guanuco, Mittelglieder zwischen den Schaafen und Camelen, hier ein Thier, das ganz das An- sehn des Esels, aber gespaltene Klauen hat (Equus bisulcus Molin.), und hier das Mniarum biflo- rum, eine Pflanze, die bis auf die Blume völlig mit der Minuartie übereinkömmt. Ganz Amerika aber hat ursprünglich keine Schaafe, keine Came- le, keine Esel und keine Minuartien. Alle diese Thiere und Pflanzen sind Bewohner der nördli- chen Erdhälfte. Wer wird es also wagen, die letztern für Stammeltern jener Amerikanischen Thiere und Pflanzen anzusehen?
Eine andere Schwürigkeit bey jener Hypothe- se ist die verschiedene Zeit der Brunst bey den Thieren und des Blühens bey den Pflanzen. Bey dem Rehbocke fällt die Brunstzeit in den Julius und August, bey dem Hirsche erst in den Sep- tember und October. Anemone narcissiflora und Anemone alpina wohnen oft auf ganz benachbar- ten Felsen der höhern Alpen beysammen, aber die eine blühet erst auf, wenn die andere schon zu verblühen anfängt. Die Gentiana verna blü- het im ersten Frühlinge, und die Chironia cen-
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Südamerika, giebt es ebenfalls Organismen, die ganz das Ansehn von Abkömmlingen verschieden- artiger Stammeltern haben, deren Urformen aber nirgends, als in den nördlichen Gegenden der al- ten Welt existiren. Hier wohnen das Llama und Guanuco, Mittelglieder zwischen den Schaafen und Camelen, hier ein Thier, das ganz das An- sehn des Esels, aber gespaltene Klauen hat (Equus bisulcus Molin.), und hier das Mniarum biflo- rum, eine Pflanze, die bis auf die Blume völlig mit der Minuartie übereinkömmt. Ganz Amerika aber hat ursprünglich keine Schaafe, keine Came- le, keine Esel und keine Minuartien. Alle diese Thiere und Pflanzen sind Bewohner der nördli- chen Erdhälfte. Wer wird es also wagen, die letztern für Stammeltern jener Amerikanischen Thiere und Pflanzen anzusehen?
Eine andere Schwürigkeit bey jener Hypothe- se ist die verschiedene Zeit der Brunst bey den Thieren und des Blühens bey den Pflanzen. Bey dem Rehbocke fällt die Brunstzeit in den Julius und August, bey dem Hirsche erst in den Sep- tember und October. Anemone narcissiflora und Anemone alpina wohnen oft auf ganz benachbar- ten Felsen der höhern Alpen beysammen, aber die eine blühet erst auf, wenn die andere schon zu verblühen anfängt. Die Gentiana verna blü- het im ersten Frühlinge, und die Chironia cen-
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Südamerika, giebt es ebenfalls Organismen, die
ganz das Ansehn von Abkömmlingen verschieden-
artiger Stammeltern haben, deren Urformen aber
nirgends, als in den nördlichen Gegenden der al-
ten Welt existiren. Hier wohnen das Llama und
Guanuco, Mittelglieder zwischen den Schaafen
und Camelen, hier ein Thier, das ganz das An-
sehn des Esels, aber gespaltene Klauen hat (Equus
bisulcus Molin.), und hier das Mniarum biflo-
rum, eine Pflanze, die bis auf die Blume völlig
mit der Minuartie übereinkömmt. Ganz Amerika
aber hat ursprünglich keine Schaafe, keine Came-
le, keine Esel und keine Minuartien. Alle diese
Thiere und Pflanzen sind Bewohner der nördli-
chen Erdhälfte. Wer wird es also wagen, die
letztern für Stammeltern jener Amerikanischen
Thiere und Pflanzen anzusehen?
Eine andere Schwürigkeit bey jener Hypothe-
se ist die verschiedene Zeit der Brunst bey den
Thieren und des Blühens bey den Pflanzen. Bey
dem Rehbocke fällt die Brunstzeit in den Julius
und August, bey dem Hirsche erst in den Sep-
tember und October. Anemone narcissiflora und
Anemone alpina wohnen oft auf ganz benachbar-
ten Felsen der höhern Alpen beysammen, aber
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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 3. Göttingen, 1805, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie03_1805/429>, abgerufen am 25.11.2024.
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