Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

Ausdünstung, des Harns und des Stuhlgangs;
u. s. w. Ist unter diesen Kennzeichen ein einziges,
das auf andern, als subjektiven Empfindungen des
Kranken, oder des Arztes beruhet? Wäre Bordeu's
Pulslehre auch, was sie nicht ist, in der Natur ge-
gründet, so würde sie doch, eben weil sie blos auf
subjektiven Erfahrungen sich gründete, für die me-
dicinische Praxis von geringem oder gar keinem
Werthe seyn.

Hieraus lässt sich die Behauptung der empiri-
schen Aerzte erklären, dass der Anfänger in der
medicinischen Praxis gezwungen sey, die Lehren
der Schule zu vergessen, und aus der Praxis selbst
die Regeln der Praxis zu erlernen. Entweder es
liegt in dieser Behauptung gar kein Sinn, oder es
kann nur der seyn, dass die Grundsätze der Heil-
kunst grösstentheils subjektiv sind, und durch kei-
nen Unterricht objektiv gemacht werden können,
sondern blos aus eigener Erfahrung geschöpft wer-
den müssen.

Die obigen Sätze zeigen auch die Richtigkeit
des Satzes: dass der Arzt mehr als irgend ein ande-
rer Künstler gewisser Anlagen zur Ausübung seiner
Kunst bedarf, und dass auch die ausgebreitetste Ge-
lehrsamkeit und der grösste Scharfsinn den Mangel
derselben nicht ersetzen kann. Die Benutzung sub-
jektiver Erfahrungen setzt nehmlich eine gleiche
Stimmung der Empfindungsorgane bey dem, der

sie
I. Bd. I

Ausdünstung, des Harns und des Stuhlgangs;
u. s. w. Ist unter diesen Kennzeichen ein einziges,
das auf andern, als subjektiven Empfindungen des
Kranken, oder des Arztes beruhet? Wäre Bordeu’s
Pulslehre auch, was sie nicht ist, in der Natur ge-
gründet, so würde sie doch, eben weil sie blos auf
subjektiven Erfahrungen sich gründete, für die me-
dicinische Praxis von geringem oder gar keinem
Werthe seyn.

Hieraus läſst sich die Behauptung der empiri-
schen Aerzte erklären, daſs der Anfänger in der
medicinischen Praxis gezwungen sey, die Lehren
der Schule zu vergessen, und aus der Praxis selbst
die Regeln der Praxis zu erlernen. Entweder es
liegt in dieser Behauptung gar kein Sinn, oder es
kann nur der seyn, daſs die Grundsätze der Heil-
kunst gröſstentheils subjektiv sind, und durch kei-
nen Unterricht objektiv gemacht werden können,
sondern blos aus eigener Erfahrung geschöpft wer-
den müssen.

Die obigen Sätze zeigen auch die Richtigkeit
des Satzes: daſs der Arzt mehr als irgend ein ande-
rer Künstler gewisser Anlagen zur Ausübung seiner
Kunst bedarf, und daſs auch die ausgebreitetste Ge-
lehrsamkeit und der gröſste Scharfsinn den Mangel
derselben nicht ersetzen kann. Die Benutzung sub-
jektiver Erfahrungen setzt nehmlich eine gleiche
Stimmung der Empfindungsorgane bey dem, der

sie
I. Bd. I
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0149" n="129"/>
Ausdünstung, des Harns und des Stuhlgangs;<lb/>
u. s. w. Ist unter diesen Kennzeichen ein einziges,<lb/>
das auf andern, als subjektiven Empfindungen des<lb/>
Kranken, oder des Arztes beruhet? Wäre <hi rendition="#k">Bordeu</hi>&#x2019;s<lb/>
Pulslehre auch, was sie nicht ist, in der Natur ge-<lb/>
gründet, so würde sie doch, eben weil sie blos auf<lb/>
subjektiven Erfahrungen sich gründete, für die me-<lb/>
dicinische Praxis von geringem oder gar keinem<lb/>
Werthe seyn.</p><lb/>
          <p>Hieraus lä&#x017F;st sich die Behauptung der empiri-<lb/>
schen Aerzte erklären, da&#x017F;s der Anfänger in der<lb/>
medicinischen Praxis gezwungen sey, die Lehren<lb/>
der Schule zu vergessen, und aus der Praxis selbst<lb/>
die Regeln der Praxis zu erlernen. Entweder es<lb/>
liegt in dieser Behauptung gar kein Sinn, oder es<lb/>
kann nur der seyn, da&#x017F;s die Grundsätze der Heil-<lb/>
kunst grö&#x017F;stentheils subjektiv sind, und durch kei-<lb/>
nen Unterricht objektiv gemacht werden können,<lb/>
sondern blos aus eigener Erfahrung geschöpft wer-<lb/>
den müssen.</p><lb/>
          <p>Die obigen Sätze zeigen auch die Richtigkeit<lb/>
des Satzes: da&#x017F;s der Arzt mehr als irgend ein ande-<lb/>
rer Künstler gewisser Anlagen zur Ausübung seiner<lb/>
Kunst bedarf, und da&#x017F;s auch die ausgebreitetste Ge-<lb/>
lehrsamkeit und der grö&#x017F;ste Scharfsinn den Mangel<lb/>
derselben nicht ersetzen kann. Die Benutzung sub-<lb/>
jektiver Erfahrungen setzt nehmlich eine gleiche<lb/>
Stimmung der Empfindungsorgane bey dem, der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#i">I. Bd.</hi> I</fw><fw place="bottom" type="catch">sie</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[129/0149] Ausdünstung, des Harns und des Stuhlgangs; u. s. w. Ist unter diesen Kennzeichen ein einziges, das auf andern, als subjektiven Empfindungen des Kranken, oder des Arztes beruhet? Wäre Bordeu’s Pulslehre auch, was sie nicht ist, in der Natur ge- gründet, so würde sie doch, eben weil sie blos auf subjektiven Erfahrungen sich gründete, für die me- dicinische Praxis von geringem oder gar keinem Werthe seyn. Hieraus läſst sich die Behauptung der empiri- schen Aerzte erklären, daſs der Anfänger in der medicinischen Praxis gezwungen sey, die Lehren der Schule zu vergessen, und aus der Praxis selbst die Regeln der Praxis zu erlernen. Entweder es liegt in dieser Behauptung gar kein Sinn, oder es kann nur der seyn, daſs die Grundsätze der Heil- kunst gröſstentheils subjektiv sind, und durch kei- nen Unterricht objektiv gemacht werden können, sondern blos aus eigener Erfahrung geschöpft wer- den müssen. Die obigen Sätze zeigen auch die Richtigkeit des Satzes: daſs der Arzt mehr als irgend ein ande- rer Künstler gewisser Anlagen zur Ausübung seiner Kunst bedarf, und daſs auch die ausgebreitetste Ge- lehrsamkeit und der gröſste Scharfsinn den Mangel derselben nicht ersetzen kann. Die Benutzung sub- jektiver Erfahrungen setzt nehmlich eine gleiche Stimmung der Empfindungsorgane bey dem, der sie I. Bd. I

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/149
Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/149>, abgerufen am 05.12.2024.