Erfahrung ist das anerkannte Verhältniss von Ursache und Wirkung zweyer Erscheinungen ge- gen einander. Es giebt zwey Wege zur Entdek- kung dieses Verhältnisses. Wir erkennen es ent- weder daraus, dass wir jene Erscheinungen oft mit einander verbunden sehen; oder wir verschaffen uns in Betreff desselben Gewissheit, indem wir die Umstände abändern, unter welchen die eine Er- scheinung erfolgt, und sehen, ob diese Abände- rung Einfluss auf das andere Phänomen hat. Der erstere Weg ist der der Induktion, und dieser führt selten zur Gewissheit, meist nur zur Wahr- scheinlichkeit, und dies häufig erst nach langen und mühsamen Untersuchungen. Der letztere Weg ist der des Experimentirens, und der ist der ein- zige, auf dem sich zur völligen Gewissheit gelangen lässt. Von diesen beyden Wegen nun ist der letz- tere dem Arzte verschlossen, und blos der erstere steht ihm offen. Hieraus ergiebt sich erstens: dass alle medicinische Erfahrung meist nur auf Wahrscheinlichkeit, selten auf Gewissheit Anspruch machen kann.
Aber auch der Weg der Induktion ist dem Arz- te in sehr vielen Fällen versperrt. Erscheinungen nehmlich, bey denen wir ein Causalverhältniss muthmassen, folgen entweder auf einander, oder sind coexistirend. In beyden Fällen lässt sich auf ein solches Verhältniss nicht eher schliessen, als bis
darge-
Erfahrung ist das anerkannte Verhältniſs von Ursache und Wirkung zweyer Erscheinungen ge- gen einander. Es giebt zwey Wege zur Entdek- kung dieses Verhältnisses. Wir erkennen es ent- weder daraus, daſs wir jene Erscheinungen oft mit einander verbunden sehen; oder wir verschaffen uns in Betreff desselben Gewiſsheit, indem wir die Umstände abändern, unter welchen die eine Er- scheinung erfolgt, und sehen, ob diese Abände- rung Einfluſs auf das andere Phänomen hat. Der erstere Weg ist der der Induktion, und dieser führt selten zur Gewiſsheit, meist nur zur Wahr- scheinlichkeit, und dies häufig erst nach langen und mühsamen Untersuchungen. Der letztere Weg ist der des Experimentirens, und der ist der ein- zige, auf dem sich zur völligen Gewiſsheit gelangen läſst. Von diesen beyden Wegen nun ist der letz- tere dem Arzte verschlossen, und blos der erstere steht ihm offen. Hieraus ergiebt sich erstens: daſs alle medicinische Erfahrung meist nur auf Wahrscheinlichkeit, selten auf Gewiſsheit Anspruch machen kann.
Aber auch der Weg der Induktion ist dem Arz- te in sehr vielen Fällen versperrt. Erscheinungen nehmlich, bey denen wir ein Causalverhältniſs muthmaſsen, folgen entweder auf einander, oder sind coexistirend. In beyden Fällen läſst sich auf ein solches Verhältniſs nicht eher schliessen, als bis
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Erfahrung ist das anerkannte Verhältniſs von
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kung dieses Verhältnisses. Wir erkennen es ent-
weder daraus, daſs wir jene Erscheinungen oft mit
einander verbunden sehen; oder wir verschaffen
uns in Betreff desselben Gewiſsheit, indem wir die
Umstände abändern, unter welchen die eine Er-
scheinung erfolgt, und sehen, ob diese Abände-
rung Einfluſs auf das andere Phänomen hat. Der
erstere Weg ist der der Induktion, und dieser
führt selten zur Gewiſsheit, meist nur zur Wahr-
scheinlichkeit, und dies häufig erst nach langen und
mühsamen Untersuchungen. Der letztere Weg ist
der des Experimentirens, und der ist der ein-
zige, auf dem sich zur völligen Gewiſsheit gelangen
läſst. Von diesen beyden Wegen nun ist der letz-
tere dem Arzte verschlossen, und blos der erstere
steht ihm offen. Hieraus ergiebt sich erstens:
daſs alle medicinische Erfahrung meist
nur auf Wahrscheinlichkeit, selten auf
Gewiſsheit Anspruch machen kann.
Aber auch der Weg der Induktion ist dem Arz-
te in sehr vielen Fällen versperrt. Erscheinungen
nehmlich, bey denen wir ein Causalverhältniſs
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sind coexistirend. In beyden Fällen läſst sich auf
ein solches Verhältniſs nicht eher schliessen, als bis
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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/145>, abgerufen am 12.12.2024.
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