entweder eure Schüler mit keinen Gegenständen bekannt, bey denen Wahrscheinlichkeit die Stelle der Gewissheit vertreten muss, oder stillet ihnen jenes Bedürfniss. Und würden sie es auch am En- de nicht selber befriedigen, wenn ihr es nicht thä- tet? Zudem, Vermuthungen und Hypothesen aus Erfahrungswissenschaften verbannen, heisst den Weg zu allen weitern Erfahrungen versperren. Um zu beobachten, müssen wir wissen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit zu richten haben. Aber woher dies wissen, ohne Erwartung eines möglichen, oder wahrscheinlichen Erfolgs, das heisst, ohne Vermuthungen und Hypothesen? Die Natur-Wissenschaften würden geistlose Namenre- gister seyn, wenn man sich blos auf das Sammeln von Thatsachen eingeschränkt hätte. Sie wurden das, was sie sind, nur dadurch, dass man das Sichtbare an ein höheres Unsichtbares knüpfte, ihm dadurch Sinn und Deutung gab, und so in das Mannichfaltige der Erscheinungen Einheit brachte.
Von dieser Seite sind also Vermuthungen und Hypothesen in der Biologie nicht nur zulässig, son- dern auch nothwendig. Allein es giebt hierbey noch einen andern Gesichtspunkt, und aus diesem erscheint die obige Frage in einem ganz andern Lichte. Die Biologie nehmlich ist die Grundlage der praktischen Heilkunde. Indem ihr also, ruft man uns zu, Thatsachen in jener mit blossen Wahr-
schein-
entweder eure Schüler mit keinen Gegenständen bekannt, bey denen Wahrscheinlichkeit die Stelle der Gewiſsheit vertreten muſs, oder stillet ihnen jenes Bedürfniſs. Und würden sie es auch am En- de nicht selber befriedigen, wenn ihr es nicht thä- tet? Zudem, Vermuthungen und Hypothesen aus Erfahrungswissenschaften verbannen, heiſst den Weg zu allen weitern Erfahrungen versperren. Um zu beobachten, müssen wir wissen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit zu richten haben. Aber woher dies wissen, ohne Erwartung eines möglichen, oder wahrscheinlichen Erfolgs, das heiſst, ohne Vermuthungen und Hypothesen? Die Natur-Wissenschaften würden geistlose Namenre- gister seyn, wenn man sich blos auf das Sammeln von Thatsachen eingeschränkt hätte. Sie wurden das, was sie sind, nur dadurch, daſs man das Sichtbare an ein höheres Unsichtbares knüpfte, ihm dadurch Sinn und Deutung gab, und so in das Mannichfaltige der Erscheinungen Einheit brachte.
Von dieser Seite sind also Vermuthungen und Hypothesen in der Biologie nicht nur zulässig, son- dern auch nothwendig. Allein es giebt hierbey noch einen andern Gesichtspunkt, und aus diesem erscheint die obige Frage in einem ganz andern Lichte. Die Biologie nehmlich ist die Grundlage der praktischen Heilkunde. Indem ihr also, ruft man uns zu, Thatsachen in jener mit bloſsen Wahr-
schein-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0140"n="120"/>
entweder eure Schüler mit keinen Gegenständen<lb/>
bekannt, bey denen Wahrscheinlichkeit die Stelle<lb/>
der Gewiſsheit vertreten muſs, oder stillet ihnen<lb/>
jenes Bedürfniſs. Und würden sie es auch am En-<lb/>
de nicht selber befriedigen, wenn ihr es nicht thä-<lb/>
tet? Zudem, Vermuthungen und Hypothesen aus<lb/>
Erfahrungswissenschaften verbannen, heiſst den<lb/>
Weg zu allen weitern Erfahrungen versperren.<lb/>
Um zu beobachten, müssen wir wissen, worauf<lb/>
wir unsere Aufmerksamkeit zu richten haben.<lb/>
Aber woher dies wissen, ohne Erwartung eines<lb/>
möglichen, oder wahrscheinlichen Erfolgs, das<lb/>
heiſst, ohne Vermuthungen und Hypothesen? Die<lb/>
Natur-Wissenschaften würden geistlose Namenre-<lb/>
gister seyn, wenn man sich blos auf das Sammeln<lb/>
von Thatsachen eingeschränkt hätte. Sie wurden<lb/>
das, was sie sind, nur dadurch, daſs man das<lb/>
Sichtbare an ein höheres Unsichtbares knüpfte, ihm<lb/>
dadurch Sinn und Deutung gab, und so in das<lb/>
Mannichfaltige der Erscheinungen Einheit brachte.</p><lb/><p>Von dieser Seite sind also Vermuthungen und<lb/>
Hypothesen in der Biologie nicht nur zulässig, son-<lb/>
dern auch nothwendig. Allein es giebt hierbey<lb/>
noch einen andern Gesichtspunkt, und aus diesem<lb/>
erscheint die obige Frage in einem ganz andern<lb/>
Lichte. Die Biologie nehmlich ist die Grundlage<lb/>
der praktischen Heilkunde. Indem ihr also, ruft<lb/>
man uns zu, Thatsachen in jener mit bloſsen Wahr-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">schein-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[120/0140]
entweder eure Schüler mit keinen Gegenständen
bekannt, bey denen Wahrscheinlichkeit die Stelle
der Gewiſsheit vertreten muſs, oder stillet ihnen
jenes Bedürfniſs. Und würden sie es auch am En-
de nicht selber befriedigen, wenn ihr es nicht thä-
tet? Zudem, Vermuthungen und Hypothesen aus
Erfahrungswissenschaften verbannen, heiſst den
Weg zu allen weitern Erfahrungen versperren.
Um zu beobachten, müssen wir wissen, worauf
wir unsere Aufmerksamkeit zu richten haben.
Aber woher dies wissen, ohne Erwartung eines
möglichen, oder wahrscheinlichen Erfolgs, das
heiſst, ohne Vermuthungen und Hypothesen? Die
Natur-Wissenschaften würden geistlose Namenre-
gister seyn, wenn man sich blos auf das Sammeln
von Thatsachen eingeschränkt hätte. Sie wurden
das, was sie sind, nur dadurch, daſs man das
Sichtbare an ein höheres Unsichtbares knüpfte, ihm
dadurch Sinn und Deutung gab, und so in das
Mannichfaltige der Erscheinungen Einheit brachte.
Von dieser Seite sind also Vermuthungen und
Hypothesen in der Biologie nicht nur zulässig, son-
dern auch nothwendig. Allein es giebt hierbey
noch einen andern Gesichtspunkt, und aus diesem
erscheint die obige Frage in einem ganz andern
Lichte. Die Biologie nehmlich ist die Grundlage
der praktischen Heilkunde. Indem ihr also, ruft
man uns zu, Thatsachen in jener mit bloſsen Wahr-
schein-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/140>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.