zu Fünfen nicht weiter, so müsse man selbviert vorschreiten.*) Die dritte Sonntagssitzung mußte verschoben werden, weil die britischen Minister noch keinen Beschluß gefaßt hatten. "Wir stehen auf Flugsand" -- sagte Bülow traurig. Guizot, der die Gefahr wohl ahnte, hielt sie doch nicht für nahe und verbrachte die kostbare Zeit in geistreicher Unterhaltung mit seiner plötzlich eingetroffenen russischen Freundin, der Fürstin Lieven. Der unschuldige Theil der vornehmen Gesellschaft glaubte, diese feine viel- gewandte Diplomatin, die beredsame Egeria der hohen Politik wollte ins- geheim für den Franzosen arbeiten. Wer moskowitische Verhältnisse kannte, mußte leicht errathen, daß sie mit Brunnow in Verbindung stand und den Auftrag hatte, jede Annäherung zwischen Guizot und Palmerston zu ver- hindern.
Da faßte sich Bülow endlich das Herz zu einem entscheidenden Rath- schlag. Im Augenblicke besaß er nicht einmal eine giltige Vollmacht, da mittlerweile der Thronwechsel in Berlin eingetreten war; indeß wußte er, daß der neue König noch friedlicher dachte als der alte, und sagte zu Neumann im Vertrauen: weil Preußen an Zwangsmaßregeln gegen Mehemed Ali niemals theilnehmen wird, darum fühle ich mich nicht ver- pflichtet die Anderen zurückzuhalten. Durch seinen langen Londoner Aufent- halt und die enge Freundschaft mit Palmerston hatte er sich in englische Anschauungen tiefer eingelebt als einem Preußen geziemte; er betrachtete den Großtürken, nach der britischen Ueberlieferung, als heilig und hielt daher Frankreichs orientalische Politik, die doch ihre guten Gründe hatte, schlecht- hin für revolutionär. Demzufolge arbeitete der geistreiche Staatsmann, der in Petersburg des Liberalismus verdächtigt wurde, arglos der russi- schen Politik in die Hände; er half ihr die Westmächte zu entzweien, das osmanische Reich in einem Zustande hilfloser Schwäche vorläufig zu erhalten. Des ewigen Zauderns müde wollte er endlich Thaten sehen. Am 1. Juli, auf einem Lever der Königin zog ihn Lord Melbourne abseits und fragte ängstlich: Was rathen Sie mir in der ägyptischen Sache? Bülow erwiderte: Habt Ihr genügende Streitkräfte im Mit- telmeer? Auf die bejahende Antwort fuhr er lebhaft fort: Dann seid schnell und kühn! Sendet sofort die Flotte vor Alexandria, werfet die Truppen von Malta und den ionischen Inseln nach Beirut und an die syrische Küste, wo Mehemed Ali keinen Angriff erwartet. Vorher schließen wir hier zu Vieren den Vertrag mit dem türkischen Gesandten ab, ohne die Ratificationen abzuwarten. So wird Frankreich über- rascht und doch nicht unmittelbar beleidigt, der Pforte aber bleibt die gefährliche russische Hilfe erspart. But I say again, be quick and bold! -- Bülow glaubte ganz sicher, Frankreich würde den ersten Aerger bald überwinden und schließlich doch genehmigen was nicht mehr zu än-
*) Metternich an Neumann, 24. 27. Juni 1840.
V. 2. Die Kriegsgefahr.
zu Fünfen nicht weiter, ſo müſſe man ſelbviert vorſchreiten.*) Die dritte Sonntagsſitzung mußte verſchoben werden, weil die britiſchen Miniſter noch keinen Beſchluß gefaßt hatten. „Wir ſtehen auf Flugſand“ — ſagte Bülow traurig. Guizot, der die Gefahr wohl ahnte, hielt ſie doch nicht für nahe und verbrachte die koſtbare Zeit in geiſtreicher Unterhaltung mit ſeiner plötzlich eingetroffenen ruſſiſchen Freundin, der Fürſtin Lieven. Der unſchuldige Theil der vornehmen Geſellſchaft glaubte, dieſe feine viel- gewandte Diplomatin, die beredſame Egeria der hohen Politik wollte ins- geheim für den Franzoſen arbeiten. Wer moskowitiſche Verhältniſſe kannte, mußte leicht errathen, daß ſie mit Brunnow in Verbindung ſtand und den Auftrag hatte, jede Annäherung zwiſchen Guizot und Palmerſton zu ver- hindern.
Da faßte ſich Bülow endlich das Herz zu einem entſcheidenden Rath- ſchlag. Im Augenblicke beſaß er nicht einmal eine giltige Vollmacht, da mittlerweile der Thronwechſel in Berlin eingetreten war; indeß wußte er, daß der neue König noch friedlicher dachte als der alte, und ſagte zu Neumann im Vertrauen: weil Preußen an Zwangsmaßregeln gegen Mehemed Ali niemals theilnehmen wird, darum fühle ich mich nicht ver- pflichtet die Anderen zurückzuhalten. Durch ſeinen langen Londoner Aufent- halt und die enge Freundſchaft mit Palmerſton hatte er ſich in engliſche Anſchauungen tiefer eingelebt als einem Preußen geziemte; er betrachtete den Großtürken, nach der britiſchen Ueberlieferung, als heilig und hielt daher Frankreichs orientaliſche Politik, die doch ihre guten Gründe hatte, ſchlecht- hin für revolutionär. Demzufolge arbeitete der geiſtreiche Staatsmann, der in Petersburg des Liberalismus verdächtigt wurde, arglos der ruſſi- ſchen Politik in die Hände; er half ihr die Weſtmächte zu entzweien, das osmaniſche Reich in einem Zuſtande hilfloſer Schwäche vorläufig zu erhalten. Des ewigen Zauderns müde wollte er endlich Thaten ſehen. Am 1. Juli, auf einem Lever der Königin zog ihn Lord Melbourne abſeits und fragte ängſtlich: Was rathen Sie mir in der ägyptiſchen Sache? Bülow erwiderte: Habt Ihr genügende Streitkräfte im Mit- telmeer? Auf die bejahende Antwort fuhr er lebhaft fort: Dann ſeid ſchnell und kühn! Sendet ſofort die Flotte vor Alexandria, werfet die Truppen von Malta und den ioniſchen Inſeln nach Beirut und an die ſyriſche Küſte, wo Mehemed Ali keinen Angriff erwartet. Vorher ſchließen wir hier zu Vieren den Vertrag mit dem türkiſchen Geſandten ab, ohne die Ratificationen abzuwarten. So wird Frankreich über- raſcht und doch nicht unmittelbar beleidigt, der Pforte aber bleibt die gefährliche ruſſiſche Hilfe erſpart. But I say again, be quick and bold! — Bülow glaubte ganz ſicher, Frankreich würde den erſten Aerger bald überwinden und ſchließlich doch genehmigen was nicht mehr zu än-
*) Metternich an Neumann, 24. 27. Juni 1840.
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Sonntagsſitzung mußte verſchoben werden, weil die britiſchen Miniſter
noch keinen Beſchluß gefaßt hatten. „Wir ſtehen auf Flugſand“ — ſagte
Bülow traurig. Guizot, der die Gefahr wohl ahnte, hielt ſie doch nicht
für nahe und verbrachte die koſtbare Zeit in geiſtreicher Unterhaltung
mit ſeiner plötzlich eingetroffenen ruſſiſchen Freundin, der Fürſtin Lieven.
Der unſchuldige Theil der vornehmen Geſellſchaft glaubte, dieſe feine viel-
gewandte Diplomatin, die beredſame Egeria der hohen Politik wollte ins-
geheim für den Franzoſen arbeiten. Wer moskowitiſche Verhältniſſe kannte,
mußte leicht errathen, daß ſie mit Brunnow in Verbindung ſtand und den
Auftrag hatte, jede Annäherung zwiſchen Guizot und Palmerſton zu ver-
hindern.
Da faßte ſich Bülow endlich das Herz zu einem entſcheidenden Rath-
ſchlag. Im Augenblicke beſaß er nicht einmal eine giltige Vollmacht, da
mittlerweile der Thronwechſel in Berlin eingetreten war; indeß wußte er,
daß der neue König noch friedlicher dachte als der alte, und ſagte zu
Neumann im Vertrauen: weil Preußen an Zwangsmaßregeln gegen
Mehemed Ali niemals theilnehmen wird, darum fühle ich mich nicht ver-
pflichtet die Anderen zurückzuhalten. Durch ſeinen langen Londoner Aufent-
halt und die enge Freundſchaft mit Palmerſton hatte er ſich in engliſche
Anſchauungen tiefer eingelebt als einem Preußen geziemte; er betrachtete
den Großtürken, nach der britiſchen Ueberlieferung, als heilig und hielt daher
Frankreichs orientaliſche Politik, die doch ihre guten Gründe hatte, ſchlecht-
hin für revolutionär. Demzufolge arbeitete der geiſtreiche Staatsmann,
der in Petersburg des Liberalismus verdächtigt wurde, arglos der ruſſi-
ſchen Politik in die Hände; er half ihr die Weſtmächte zu entzweien,
das osmaniſche Reich in einem Zuſtande hilfloſer Schwäche vorläufig zu
erhalten. Des ewigen Zauderns müde wollte er endlich Thaten ſehen.
Am 1. Juli, auf einem Lever der Königin zog ihn Lord Melbourne
abſeits und fragte ängſtlich: Was rathen Sie mir in der ägyptiſchen
Sache? Bülow erwiderte: Habt Ihr genügende Streitkräfte im Mit-
telmeer? Auf die bejahende Antwort fuhr er lebhaft fort: Dann ſeid
ſchnell und kühn! Sendet ſofort die Flotte vor Alexandria, werfet die
Truppen von Malta und den ioniſchen Inſeln nach Beirut und an
die ſyriſche Küſte, wo Mehemed Ali keinen Angriff erwartet. Vorher
ſchließen wir hier zu Vieren den Vertrag mit dem türkiſchen Geſandten
ab, ohne die Ratificationen abzuwarten. So wird Frankreich über-
raſcht und doch nicht unmittelbar beleidigt, der Pforte aber bleibt die
gefährliche ruſſiſche Hilfe erſpart. But I say again, be quick and
bold! — Bülow glaubte ganz ſicher, Frankreich würde den erſten Aerger
bald überwinden und ſchließlich doch genehmigen was nicht mehr zu än-
*) Metternich an Neumann, 24. 27. Juni 1840.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/90>, abgerufen am 23.11.2024.
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