Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.V. 2. Die Kriegsgefahr. ihn zu erneuern schien unmöglich da die Eifersucht der Westmächte längsterwacht war. Die friedliche Schutzherrschaft Rußlands in der Türkei ließ sich ja auch ohnedies behaupten, wenn man nur dem englischen Hofe und den beiden deutschen Mächten eine bescheidene Mitwirkung bei der Rettung des Sultans einräumte. Am Petersburger Hofe wünschte man die Macht des Aegypters also zu schwächen, daß er nie mehr hoffen konnte als Hausmeier des Sultans das osmanische Reich von innen heraus zu ver- jüngen; man wollte ihn aber auch nicht ganz fallen lassen, weil sein halbselbständiger Staat doch immer ein Pfahl im Fleische der Türkei blieb. Seit der Schlacht von Nisib mußte auch Palmerston einsehen, daß man Mehemed Ali nicht vernichten konnte. Mithin bestand keine ernstliche Mei- nungsverschiedenheit zwischen den beiden Mächten; sie mußten sich nur noch verständigen über die beiden Fragen, welche Stücke syrischen Landes dem be- trogenen Sieger verbleiben, und wie die Großmächte im Nothfalle ihre be- waffnete Einmischung ausführen sollten. Da Rußlands Streitkräfte durch die kaukasischen Kämpfe und einen Feldzug gegen Chiwa erheblich geschwächt waren, so wünschte Nikolaus im Augenblicke keinen europäischen Krieg; er hoffte vielmehr Frankreich friedlich zu besiegen, indem er sich erst mit England, dann mit den beiden deutschen Mächten vereinigte. Die Einladung zu der Wiener Conferenz lehnte er entschieden ab, V. 2. Die Kriegsgefahr. ihn zu erneuern ſchien unmöglich da die Eiferſucht der Weſtmächte längſterwacht war. Die friedliche Schutzherrſchaft Rußlands in der Türkei ließ ſich ja auch ohnedies behaupten, wenn man nur dem engliſchen Hofe und den beiden deutſchen Mächten eine beſcheidene Mitwirkung bei der Rettung des Sultans einräumte. Am Petersburger Hofe wünſchte man die Macht des Aegypters alſo zu ſchwächen, daß er nie mehr hoffen konnte als Hausmeier des Sultans das osmaniſche Reich von innen heraus zu ver- jüngen; man wollte ihn aber auch nicht ganz fallen laſſen, weil ſein halbſelbſtändiger Staat doch immer ein Pfahl im Fleiſche der Türkei blieb. Seit der Schlacht von Niſib mußte auch Palmerſton einſehen, daß man Mehemed Ali nicht vernichten konnte. Mithin beſtand keine ernſtliche Mei- nungsverſchiedenheit zwiſchen den beiden Mächten; ſie mußten ſich nur noch verſtändigen über die beiden Fragen, welche Stücke ſyriſchen Landes dem be- trogenen Sieger verbleiben, und wie die Großmächte im Nothfalle ihre be- waffnete Einmiſchung ausführen ſollten. Da Rußlands Streitkräfte durch die kaukaſiſchen Kämpfe und einen Feldzug gegen Chiwa erheblich geſchwächt waren, ſo wünſchte Nikolaus im Augenblicke keinen europäiſchen Krieg; er hoffte vielmehr Frankreich friedlich zu beſiegen, indem er ſich erſt mit England, dann mit den beiden deutſchen Mächten vereinigte. Die Einladung zu der Wiener Conferenz lehnte er entſchieden ab, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0084" n="70"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> 2. Die Kriegsgefahr.</fw><lb/> ihn zu erneuern ſchien unmöglich da die Eiferſucht der Weſtmächte längſt<lb/> erwacht war. Die friedliche Schutzherrſchaft Rußlands in der Türkei ließ<lb/> ſich ja auch ohnedies behaupten, wenn man nur dem engliſchen Hofe und<lb/> den beiden deutſchen Mächten eine beſcheidene Mitwirkung bei der Rettung<lb/> des Sultans einräumte. 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Brunnow nach<lb/> London geſendet, ein ſanfter, feiner, geſchmeidiger Mann, der alsbald<lb/> eine unbegrenzte Bewunderung für die Sitten der vornehmen Geſellſchaft<lb/> Englands zeigte, an ihrem Sport, ihren Bazaren und Wohlthätigkeits-<lb/> concerten eifrig theilnahm. In der diplomatiſchen Welt hieß er der ruſ-<lb/> ſiſche Gentz; die Vergleichung traf freilich nicht zu, denn mit dem Geiſte<lb/> und der ſchriftſtelleriſchen Größe des öſterreichiſchen Staatsmannes konnte<lb/> er ſich nicht von fern vergleichen, in den Künſten ſchlauer Unterhandlung<lb/> war er ihm weit überlegen. Brunnow eröffnete dem britiſchen Miniſter:<lb/> der Czar habe nichts dawider, wenn England durch ſeine Flotte den Aegyp-<lb/> ter zur Annahme eines billigen Friedens zwingen wolle, und würde dann<lb/> nöthigenfalls ſeine eigenen Truppen über Sinope durch Kleinaſien gegen<lb/> Ibrahim Paſcha vorgehen laſſen. 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V. 2. Die Kriegsgefahr.
ihn zu erneuern ſchien unmöglich da die Eiferſucht der Weſtmächte längſt
erwacht war. Die friedliche Schutzherrſchaft Rußlands in der Türkei ließ
ſich ja auch ohnedies behaupten, wenn man nur dem engliſchen Hofe und
den beiden deutſchen Mächten eine beſcheidene Mitwirkung bei der Rettung
des Sultans einräumte. Am Petersburger Hofe wünſchte man die Macht
des Aegypters alſo zu ſchwächen, daß er nie mehr hoffen konnte als
Hausmeier des Sultans das osmaniſche Reich von innen heraus zu ver-
jüngen; man wollte ihn aber auch nicht ganz fallen laſſen, weil ſein
halbſelbſtändiger Staat doch immer ein Pfahl im Fleiſche der Türkei
blieb. Seit der Schlacht von Niſib mußte auch Palmerſton einſehen, daß man
Mehemed Ali nicht vernichten konnte. Mithin beſtand keine ernſtliche Mei-
nungsverſchiedenheit zwiſchen den beiden Mächten; ſie mußten ſich nur noch
verſtändigen über die beiden Fragen, welche Stücke ſyriſchen Landes dem be-
trogenen Sieger verbleiben, und wie die Großmächte im Nothfalle ihre be-
waffnete Einmiſchung ausführen ſollten. Da Rußlands Streitkräfte durch
die kaukaſiſchen Kämpfe und einen Feldzug gegen Chiwa erheblich geſchwächt
waren, ſo wünſchte Nikolaus im Augenblicke keinen europäiſchen Krieg;
er hoffte vielmehr Frankreich friedlich zu beſiegen, indem er ſich erſt mit
England, dann mit den beiden deutſchen Mächten vereinigte.
Die Einladung zu der Wiener Conferenz lehnte er entſchieden ab,
weil er befürchtete dort durch Oeſterreich und die Weſtmächte überſtimmt
zu werden Metternich empfand dieſe Abſage als eine ſchwere perſön-
liche Beleidigung und erging ſich in Schmähreden wider die Schwäche
und die Thorheit des Czaren — ganz wie im Jahre 1826, als ſich Ruß-
land und England über die griechiſche Frage verſtändigten. Auch dies-
mal mußte er erfahren, daß in den orientaliſchen Händeln Rußland, nicht
Oeſterreich die führende Macht des Oſtbundes war. Im September 1839
wurde einer der jüngeren ruſſiſchen Diplomaten, Frhr. v. Brunnow nach
London geſendet, ein ſanfter, feiner, geſchmeidiger Mann, der alsbald
eine unbegrenzte Bewunderung für die Sitten der vornehmen Geſellſchaft
Englands zeigte, an ihrem Sport, ihren Bazaren und Wohlthätigkeits-
concerten eifrig theilnahm. In der diplomatiſchen Welt hieß er der ruſ-
ſiſche Gentz; die Vergleichung traf freilich nicht zu, denn mit dem Geiſte
und der ſchriftſtelleriſchen Größe des öſterreichiſchen Staatsmannes konnte
er ſich nicht von fern vergleichen, in den Künſten ſchlauer Unterhandlung
war er ihm weit überlegen. Brunnow eröffnete dem britiſchen Miniſter:
der Czar habe nichts dawider, wenn England durch ſeine Flotte den Aegyp-
ter zur Annahme eines billigen Friedens zwingen wolle, und würde dann
nöthigenfalls ſeine eigenen Truppen über Sinope durch Kleinaſien gegen
Ibrahim Paſcha vorgehen laſſen. Nicht ohne ein begreifliches Mißtrauen
nahm Palmerſton dieſe Anerbietungen entgegen; ſie genügten ihm nicht,
da ihm vor Allem daran gelegen war, den Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi
zu beſeitigen, der britiſchen Flotte die Einfahrt durch die Dardanellen
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