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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Die liberale Türkei.
schwall reich ausgestattete Urkunde, welche allen Unterthanen des Sultans
Sicherheit von Leib und Habe, Aufhebung der Steuerpacht, gerechte Ver-
theilung der Abgaben und des Kriegsdienstes verhieß. Darauf beschwor
der Sultan nebst den hohen Beamten seinen Gnadenerlaß, der natürlich
niemals ausgeführt wurde, und die Batterien auf beiden Ufern des Bos-
porus donnerten ihren Festgruß.

Der Hattischerif eröffnete die lange Reihe jener "mit Honig beschrie-
benen Papiere", welche die klugen Moslemin fortan von Zeit zu Zeit
den unbeschreiblich verachteten Franken vorzuhalten pflegten. Wunderbar
schnell, mit orientalischer Findigkeit lebte der Divan sich in neue politische
Künste ein; er spielte fortan die liberale Macht und wußte bald durch
die dienstwilligen Federn der befreundeten Gesandtschaften in Pera, bald
durch einfache Bestechung die europäische Presse dermaßen zu beherrschen,
daß die einst im Portfolio angeschlagenen Töne überall mächtig wieder-
klangen. Schon seit dem Alterthum waren die Stämme am Bosporus um
ihrer Ruchlosigkeit willen verrufen. Hier lag Lesbos, die Heimath der un-
natürlichen Wollust, hier Lampsakos, wo Aphrodite den schamlosesten ihrer
Söhne, den Priapus gebar, hier die große Polis, wo der Auswurf dreier
Welttheile stinkend zusammenrann, und mitteninne das barbarisch geschändete
schönste Gotteshaus der morgenländischen Christenheit. In diesen Ländern,
wo Menschenleben wenig, Menschenwürde nichts gilt, wo die Natur alle
ihre Reize, die hellenischen, die byzantinischen, die orientalischen Völker
ebenso verschwenderisch alle ihre Niedertracht entfaltet haben, wähnte die
Presse des Abendlandes eine Heimstätte der Freiheit zu sehen; mit Aus-
nahme der französischen verherrlichten jetzt alle europäischen Blätter den libe-
ralen Sultan mitsammt seinem Hofastrologen. Der Aegypter aber, der seine
Leute kannte, sagte ingrimmig: dieser Hattischerif sei nichts weiter als ein
gegen ihn gerichteter Schachzug.

Mittlerweile vollzog Rußland eine längst vorbereitete diplomatische
Schwenkung. Nikolaus hatte gleich nach seiner Thronbesteigung die Er-
fahrung gemacht, daß er seine Zwecke im Oriente dann am sichersten
erreichen konnte, wenn er sich mit dem gefährlichsten Gegner, mit England
scheinbar verständigte.*) Persönlich hegte er, so weit ein Czar dies ver-
mochte, fast eine Vorliebe für die Briten; während der letzten Jahre
hatte er sich stets absichtlich gehütet die revolutionäre Politik Palmerston's
zu bemerken. Dies England mit Frankreich zu verfeinden, das herzliche
Einvernehmen der Westmächte zu zerstören, den alten Vierbund der con-
servativen Mächte wiederherzustellen und also den verhaßten Staat der
Revolution gänzlich zu vereinzeln, bis vielleicht der große Kreuzzug der
Legitimität möglich würde -- dahin gingen von langeher die Wünsche
des Czaren. Der Vertrag von Hunkiar-Iskelessi lief binnen Kurzem ab;

*) S. o. III. 729.

Die liberale Türkei.
ſchwall reich ausgeſtattete Urkunde, welche allen Unterthanen des Sultans
Sicherheit von Leib und Habe, Aufhebung der Steuerpacht, gerechte Ver-
theilung der Abgaben und des Kriegsdienſtes verhieß. Darauf beſchwor
der Sultan nebſt den hohen Beamten ſeinen Gnadenerlaß, der natürlich
niemals ausgeführt wurde, und die Batterien auf beiden Ufern des Bos-
porus donnerten ihren Feſtgruß.

Der Hattiſcherif eröffnete die lange Reihe jener „mit Honig beſchrie-
benen Papiere“, welche die klugen Moslemin fortan von Zeit zu Zeit
den unbeſchreiblich verachteten Franken vorzuhalten pflegten. Wunderbar
ſchnell, mit orientaliſcher Findigkeit lebte der Divan ſich in neue politiſche
Künſte ein; er ſpielte fortan die liberale Macht und wußte bald durch
die dienſtwilligen Federn der befreundeten Geſandtſchaften in Pera, bald
durch einfache Beſtechung die europäiſche Preſſe dermaßen zu beherrſchen,
daß die einſt im Portfolio angeſchlagenen Töne überall mächtig wieder-
klangen. Schon ſeit dem Alterthum waren die Stämme am Bosporus um
ihrer Ruchloſigkeit willen verrufen. Hier lag Lesbos, die Heimath der un-
natürlichen Wolluſt, hier Lampſakos, wo Aphrodite den ſchamloſeſten ihrer
Söhne, den Priapus gebar, hier die große Polis, wo der Auswurf dreier
Welttheile ſtinkend zuſammenrann, und mitteninne das barbariſch geſchändete
ſchönſte Gotteshaus der morgenländiſchen Chriſtenheit. In dieſen Ländern,
wo Menſchenleben wenig, Menſchenwürde nichts gilt, wo die Natur alle
ihre Reize, die helleniſchen, die byzantiniſchen, die orientaliſchen Völker
ebenſo verſchwenderiſch alle ihre Niedertracht entfaltet haben, wähnte die
Preſſe des Abendlandes eine Heimſtätte der Freiheit zu ſehen; mit Aus-
nahme der franzöſiſchen verherrlichten jetzt alle europäiſchen Blätter den libe-
ralen Sultan mitſammt ſeinem Hofaſtrologen. Der Aegypter aber, der ſeine
Leute kannte, ſagte ingrimmig: dieſer Hattiſcherif ſei nichts weiter als ein
gegen ihn gerichteter Schachzug.

Mittlerweile vollzog Rußland eine längſt vorbereitete diplomatiſche
Schwenkung. Nikolaus hatte gleich nach ſeiner Thronbeſteigung die Er-
fahrung gemacht, daß er ſeine Zwecke im Oriente dann am ſicherſten
erreichen konnte, wenn er ſich mit dem gefährlichſten Gegner, mit England
ſcheinbar verſtändigte.*) Perſönlich hegte er, ſo weit ein Czar dies ver-
mochte, faſt eine Vorliebe für die Briten; während der letzten Jahre
hatte er ſich ſtets abſichtlich gehütet die revolutionäre Politik Palmerſton’s
zu bemerken. Dies England mit Frankreich zu verfeinden, das herzliche
Einvernehmen der Weſtmächte zu zerſtören, den alten Vierbund der con-
ſervativen Mächte wiederherzuſtellen und alſo den verhaßten Staat der
Revolution gänzlich zu vereinzeln, bis vielleicht der große Kreuzzug der
Legitimität möglich würde — dahin gingen von langeher die Wünſche
des Czaren. Der Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi lief binnen Kurzem ab;

*) S. o. III. 729.
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[69/0083] Die liberale Türkei. ſchwall reich ausgeſtattete Urkunde, welche allen Unterthanen des Sultans Sicherheit von Leib und Habe, Aufhebung der Steuerpacht, gerechte Ver- theilung der Abgaben und des Kriegsdienſtes verhieß. Darauf beſchwor der Sultan nebſt den hohen Beamten ſeinen Gnadenerlaß, der natürlich niemals ausgeführt wurde, und die Batterien auf beiden Ufern des Bos- porus donnerten ihren Feſtgruß. Der Hattiſcherif eröffnete die lange Reihe jener „mit Honig beſchrie- benen Papiere“, welche die klugen Moslemin fortan von Zeit zu Zeit den unbeſchreiblich verachteten Franken vorzuhalten pflegten. Wunderbar ſchnell, mit orientaliſcher Findigkeit lebte der Divan ſich in neue politiſche Künſte ein; er ſpielte fortan die liberale Macht und wußte bald durch die dienſtwilligen Federn der befreundeten Geſandtſchaften in Pera, bald durch einfache Beſtechung die europäiſche Preſſe dermaßen zu beherrſchen, daß die einſt im Portfolio angeſchlagenen Töne überall mächtig wieder- klangen. Schon ſeit dem Alterthum waren die Stämme am Bosporus um ihrer Ruchloſigkeit willen verrufen. Hier lag Lesbos, die Heimath der un- natürlichen Wolluſt, hier Lampſakos, wo Aphrodite den ſchamloſeſten ihrer Söhne, den Priapus gebar, hier die große Polis, wo der Auswurf dreier Welttheile ſtinkend zuſammenrann, und mitteninne das barbariſch geſchändete ſchönſte Gotteshaus der morgenländiſchen Chriſtenheit. In dieſen Ländern, wo Menſchenleben wenig, Menſchenwürde nichts gilt, wo die Natur alle ihre Reize, die helleniſchen, die byzantiniſchen, die orientaliſchen Völker ebenſo verſchwenderiſch alle ihre Niedertracht entfaltet haben, wähnte die Preſſe des Abendlandes eine Heimſtätte der Freiheit zu ſehen; mit Aus- nahme der franzöſiſchen verherrlichten jetzt alle europäiſchen Blätter den libe- ralen Sultan mitſammt ſeinem Hofaſtrologen. Der Aegypter aber, der ſeine Leute kannte, ſagte ingrimmig: dieſer Hattiſcherif ſei nichts weiter als ein gegen ihn gerichteter Schachzug. Mittlerweile vollzog Rußland eine längſt vorbereitete diplomatiſche Schwenkung. Nikolaus hatte gleich nach ſeiner Thronbeſteigung die Er- fahrung gemacht, daß er ſeine Zwecke im Oriente dann am ſicherſten erreichen konnte, wenn er ſich mit dem gefährlichſten Gegner, mit England ſcheinbar verſtändigte. *) Perſönlich hegte er, ſo weit ein Czar dies ver- mochte, faſt eine Vorliebe für die Briten; während der letzten Jahre hatte er ſich ſtets abſichtlich gehütet die revolutionäre Politik Palmerſton’s zu bemerken. Dies England mit Frankreich zu verfeinden, das herzliche Einvernehmen der Weſtmächte zu zerſtören, den alten Vierbund der con- ſervativen Mächte wiederherzuſtellen und alſo den verhaßten Staat der Revolution gänzlich zu vereinzeln, bis vielleicht der große Kreuzzug der Legitimität möglich würde — dahin gingen von langeher die Wünſche des Czaren. Der Vertrag von Hunkiar-Iskeleſſi lief binnen Kurzem ab; *) S. o. III. 729.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/83>, abgerufen am 23.11.2024.