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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Der zweite türkisch-ägyptische Krieg.
zugleich ward Englands Feindschaft immer bedrohlicher. Seit den Tagen
der Quadrupelallianz hegte Palmerston einen heißen, stillen Groll gegen
die unzuverlässigen französischen Freunde. Wie oft war er damals von
Talleyrand überlistet worden;*) dies verzieh er nie, denn nach seiner An-
schauung besaß allein die englische Diplomatie das Recht, ihre Bundes-
genossen zu betrügen. Das gerühmte herzliche Einvernehmen der West-
mächte bestand nur noch dem Namen nach. Obwohl der Lord von den
Verhältnissen des Orients und der Kolonien sehr wenig wußte, so besaß
er doch ein sicheres instinktives Gefühl für die Größe seines Landes; nie-
mals glaubte er an die neue Lehre der Freihandelsschule Richard Cobden's,
daß jede Kolonie sich vom Mutterlande losreißen müsse und Großbritannien
durch seinen transatlantischen Besitz nur geschwächt würde. Er erkannte so-
gleich, Englands Machtstellung im Mittelmeere sei verloren, wenn Mehemed
Ali über die schwachen Zwischenländer hinweg den Franzosen in Algier die
Hand reichte. Der schlaue Aegypter wußte auch sehr wohl, wo er seine
Feinde zu suchen hatte; geflissentlich erschwerte er den Briten den Verkehr
mit Indien, er versperrte den wichtigen Handelsweg durch Vorderasien zum
Euphrat und Orontes, bemächtigte sich des einträglichen Kaffeehandels im
Rothen Meere, begann in Syrien und Aegypten Fabriken anzulegen, welche
die englische Einfuhr schädigten. Diese Handelsinteressen bestimmten Eng-
lands Haltung, ganz wie im Jahre 1830 bei der Preisgebung Hollands der
Groll über die niederländische Zoll- und Kolonialpolitik den Ausschlag ge-
geben hatte. Mit leidenschaftlichem Ungestüm suchte Palmerston die ge-
fährliche Macht des Aegypters zu vernichten oder doch zu schwächen; alles
Gerede über den unaufhaltsamen Zerfall des türkischen Reichs erklärte er
kurzab für nonsense.

Schadenfroh konnte der Petersburger Hof abwarten, wie die Feind-
schaft der beiden Westmächte im Oriente sich mehr und mehr verschärfte.
Seit der Schließung der Dardanellenstraße beherrschte er das Schwarze
Meer fast unumschränkt, und da er durch den Vertrag von Hunkiar
Iskelessi berechtigt war, seinem türkischen Schützling im Kriegsfalle Hilfe
zu leisten, so betrachtete er nicht ohne Behagen, wie der Sultan und
der Pascha sich zum Kampfe rüsteten. Mehrere Jahre hindurch standen
die türkischen und die ägyptischen Truppen an der syrischen Grenze einander
gegenüber. Durch diese gewaltigen Heeresmassen wurden die armen Länder
am oberen Euphrat völlig ausgesogen und die Kraft der beiden muhame-
danischen Reiche dermaßen gelähmt, daß der in Petersburg ersehnte Zu-
sammenbruch vielleicht bald eintreten konnte.

Von dem ermatteten Wiener Hofe hatten die Moskowiter wenig zu
fürchten. Dessen ganze Weisheit lief noch immer darauf hinaus, daß der
Sultan der legitime Herrscher, der Pascha ein fluchwürdiger Reformer und

*) S. o. IV. 507 ff.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 5

Der zweite türkiſch-ägyptiſche Krieg.
zugleich ward Englands Feindſchaft immer bedrohlicher. Seit den Tagen
der Quadrupelallianz hegte Palmerſton einen heißen, ſtillen Groll gegen
die unzuverläſſigen franzöſiſchen Freunde. Wie oft war er damals von
Talleyrand überliſtet worden;*) dies verzieh er nie, denn nach ſeiner An-
ſchauung beſaß allein die engliſche Diplomatie das Recht, ihre Bundes-
genoſſen zu betrügen. Das gerühmte herzliche Einvernehmen der Weſt-
mächte beſtand nur noch dem Namen nach. Obwohl der Lord von den
Verhältniſſen des Orients und der Kolonien ſehr wenig wußte, ſo beſaß
er doch ein ſicheres inſtinktives Gefühl für die Größe ſeines Landes; nie-
mals glaubte er an die neue Lehre der Freihandelsſchule Richard Cobden’s,
daß jede Kolonie ſich vom Mutterlande losreißen müſſe und Großbritannien
durch ſeinen transatlantiſchen Beſitz nur geſchwächt würde. Er erkannte ſo-
gleich, Englands Machtſtellung im Mittelmeere ſei verloren, wenn Mehemed
Ali über die ſchwachen Zwiſchenländer hinweg den Franzoſen in Algier die
Hand reichte. Der ſchlaue Aegypter wußte auch ſehr wohl, wo er ſeine
Feinde zu ſuchen hatte; gefliſſentlich erſchwerte er den Briten den Verkehr
mit Indien, er verſperrte den wichtigen Handelsweg durch Vorderaſien zum
Euphrat und Orontes, bemächtigte ſich des einträglichen Kaffeehandels im
Rothen Meere, begann in Syrien und Aegypten Fabriken anzulegen, welche
die engliſche Einfuhr ſchädigten. Dieſe Handelsintereſſen beſtimmten Eng-
lands Haltung, ganz wie im Jahre 1830 bei der Preisgebung Hollands der
Groll über die niederländiſche Zoll- und Kolonialpolitik den Ausſchlag ge-
geben hatte. Mit leidenſchaftlichem Ungeſtüm ſuchte Palmerſton die ge-
fährliche Macht des Aegypters zu vernichten oder doch zu ſchwächen; alles
Gerede über den unaufhaltſamen Zerfall des türkiſchen Reichs erklärte er
kurzab für nonsense.

Schadenfroh konnte der Petersburger Hof abwarten, wie die Feind-
ſchaft der beiden Weſtmächte im Oriente ſich mehr und mehr verſchärfte.
Seit der Schließung der Dardanellenſtraße beherrſchte er das Schwarze
Meer faſt unumſchränkt, und da er durch den Vertrag von Hunkiar
Iskeleſſi berechtigt war, ſeinem türkiſchen Schützling im Kriegsfalle Hilfe
zu leiſten, ſo betrachtete er nicht ohne Behagen, wie der Sultan und
der Paſcha ſich zum Kampfe rüſteten. Mehrere Jahre hindurch ſtanden
die türkiſchen und die ägyptiſchen Truppen an der ſyriſchen Grenze einander
gegenüber. Durch dieſe gewaltigen Heeresmaſſen wurden die armen Länder
am oberen Euphrat völlig ausgeſogen und die Kraft der beiden muhame-
daniſchen Reiche dermaßen gelähmt, daß der in Petersburg erſehnte Zu-
ſammenbruch vielleicht bald eintreten konnte.

Von dem ermatteten Wiener Hofe hatten die Moskowiter wenig zu
fürchten. Deſſen ganze Weisheit lief noch immer darauf hinaus, daß der
Sultan der legitime Herrſcher, der Paſcha ein fluchwürdiger Reformer und

*) S. o. IV. 507 ff.
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[65/0079] Der zweite türkiſch-ägyptiſche Krieg. zugleich ward Englands Feindſchaft immer bedrohlicher. Seit den Tagen der Quadrupelallianz hegte Palmerſton einen heißen, ſtillen Groll gegen die unzuverläſſigen franzöſiſchen Freunde. Wie oft war er damals von Talleyrand überliſtet worden; *) dies verzieh er nie, denn nach ſeiner An- ſchauung beſaß allein die engliſche Diplomatie das Recht, ihre Bundes- genoſſen zu betrügen. Das gerühmte herzliche Einvernehmen der Weſt- mächte beſtand nur noch dem Namen nach. Obwohl der Lord von den Verhältniſſen des Orients und der Kolonien ſehr wenig wußte, ſo beſaß er doch ein ſicheres inſtinktives Gefühl für die Größe ſeines Landes; nie- mals glaubte er an die neue Lehre der Freihandelsſchule Richard Cobden’s, daß jede Kolonie ſich vom Mutterlande losreißen müſſe und Großbritannien durch ſeinen transatlantiſchen Beſitz nur geſchwächt würde. Er erkannte ſo- gleich, Englands Machtſtellung im Mittelmeere ſei verloren, wenn Mehemed Ali über die ſchwachen Zwiſchenländer hinweg den Franzoſen in Algier die Hand reichte. Der ſchlaue Aegypter wußte auch ſehr wohl, wo er ſeine Feinde zu ſuchen hatte; gefliſſentlich erſchwerte er den Briten den Verkehr mit Indien, er verſperrte den wichtigen Handelsweg durch Vorderaſien zum Euphrat und Orontes, bemächtigte ſich des einträglichen Kaffeehandels im Rothen Meere, begann in Syrien und Aegypten Fabriken anzulegen, welche die engliſche Einfuhr ſchädigten. Dieſe Handelsintereſſen beſtimmten Eng- lands Haltung, ganz wie im Jahre 1830 bei der Preisgebung Hollands der Groll über die niederländiſche Zoll- und Kolonialpolitik den Ausſchlag ge- geben hatte. Mit leidenſchaftlichem Ungeſtüm ſuchte Palmerſton die ge- fährliche Macht des Aegypters zu vernichten oder doch zu ſchwächen; alles Gerede über den unaufhaltſamen Zerfall des türkiſchen Reichs erklärte er kurzab für nonsense. Schadenfroh konnte der Petersburger Hof abwarten, wie die Feind- ſchaft der beiden Weſtmächte im Oriente ſich mehr und mehr verſchärfte. Seit der Schließung der Dardanellenſtraße beherrſchte er das Schwarze Meer faſt unumſchränkt, und da er durch den Vertrag von Hunkiar Iskeleſſi berechtigt war, ſeinem türkiſchen Schützling im Kriegsfalle Hilfe zu leiſten, ſo betrachtete er nicht ohne Behagen, wie der Sultan und der Paſcha ſich zum Kampfe rüſteten. Mehrere Jahre hindurch ſtanden die türkiſchen und die ägyptiſchen Truppen an der ſyriſchen Grenze einander gegenüber. Durch dieſe gewaltigen Heeresmaſſen wurden die armen Länder am oberen Euphrat völlig ausgeſogen und die Kraft der beiden muhame- daniſchen Reiche dermaßen gelähmt, daß der in Petersburg erſehnte Zu- ſammenbruch vielleicht bald eintreten konnte. Von dem ermatteten Wiener Hofe hatten die Moskowiter wenig zu fürchten. Deſſen ganze Weisheit lief noch immer darauf hinaus, daß der Sultan der legitime Herrſcher, der Paſcha ein fluchwürdiger Reformer und *) S. o. IV. 507 ff. v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 5

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/79>, abgerufen am 23.11.2024.