Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.V. 2. Die Kriegsgefahr. Gleichgewicht der Mächte herzustellen, das auf dem Festlande längst be-stand, jenes heilsame Gleichgewicht, das keinem Staate ermöglichte sich Alles zu erlauben und darum jedem ein menschliches Völkerrecht sicherte. Die Gesittung des Menschengeschlechts forderte, daß die vielgestaltige Herr- lichkeit der Weltgeschichte, die einst mit der Herrschaft der monosyllabischen Chinesen begonnen hatte, nicht in einem trostlosen Kreislaufe mit dem Reiche der monosyllabischen Briten endigen durfte. Sobald die orienta- lische Frage wieder in Fluß gerieth, mußte eine weitschauende Staats- kunst darnach trachten, die erdrückende Fremdherrschaft, welche Englands Flotten von Gibraltar, Malta, Korfu aus aufrecht hielten, zum mindesten einzuschränken, das Mittelmeer den mediterranischen Völkern zurückzugeben. Der preußische Staat aber besaß noch keine Flotte; er konnte und durfte sich zu einer so freien Anschauung jener weit entlegenen Händel nicht er- heben, so lange er selbst die zerfahrene deutsche Welt kaum nothdürftig zu schützen vermochte und eine italienische Großmacht noch nicht bestand. Der Friede zwischen Aegypten und der Pforte wurde nach orienta- In Wahrheit stand Mehemed Ali's Macht bei Weitem nicht mehr *) Maltzan's Berichte, Jan. 1840.
V. 2. Die Kriegsgefahr. Gleichgewicht der Mächte herzuſtellen, das auf dem Feſtlande längſt be-ſtand, jenes heilſame Gleichgewicht, das keinem Staate ermöglichte ſich Alles zu erlauben und darum jedem ein menſchliches Völkerrecht ſicherte. Die Geſittung des Menſchengeſchlechts forderte, daß die vielgeſtaltige Herr- lichkeit der Weltgeſchichte, die einſt mit der Herrſchaft der monoſyllabiſchen Chineſen begonnen hatte, nicht in einem troſtloſen Kreislaufe mit dem Reiche der monoſyllabiſchen Briten endigen durfte. Sobald die orienta- liſche Frage wieder in Fluß gerieth, mußte eine weitſchauende Staats- kunſt darnach trachten, die erdrückende Fremdherrſchaft, welche Englands Flotten von Gibraltar, Malta, Korfu aus aufrecht hielten, zum mindeſten einzuſchränken, das Mittelmeer den mediterraniſchen Völkern zurückzugeben. Der preußiſche Staat aber beſaß noch keine Flotte; er konnte und durfte ſich zu einer ſo freien Anſchauung jener weit entlegenen Händel nicht er- heben, ſo lange er ſelbſt die zerfahrene deutſche Welt kaum nothdürftig zu ſchützen vermochte und eine italieniſche Großmacht noch nicht beſtand. Der Friede zwiſchen Aegypten und der Pforte wurde nach orienta- In Wahrheit ſtand Mehemed Ali’s Macht bei Weitem nicht mehr *) Maltzan’s Berichte, Jan. 1840.
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V. 2. Die Kriegsgefahr.
Gleichgewicht der Mächte herzuſtellen, das auf dem Feſtlande längſt be-
ſtand, jenes heilſame Gleichgewicht, das keinem Staate ermöglichte ſich
Alles zu erlauben und darum jedem ein menſchliches Völkerrecht ſicherte.
Die Geſittung des Menſchengeſchlechts forderte, daß die vielgeſtaltige Herr-
lichkeit der Weltgeſchichte, die einſt mit der Herrſchaft der monoſyllabiſchen
Chineſen begonnen hatte, nicht in einem troſtloſen Kreislaufe mit dem
Reiche der monoſyllabiſchen Briten endigen durfte. Sobald die orienta-
liſche Frage wieder in Fluß gerieth, mußte eine weitſchauende Staats-
kunſt darnach trachten, die erdrückende Fremdherrſchaft, welche Englands
Flotten von Gibraltar, Malta, Korfu aus aufrecht hielten, zum mindeſten
einzuſchränken, das Mittelmeer den mediterraniſchen Völkern zurückzugeben.
Der preußiſche Staat aber beſaß noch keine Flotte; er konnte und durfte ſich
zu einer ſo freien Anſchauung jener weit entlegenen Händel nicht er-
heben, ſo lange er ſelbſt die zerfahrene deutſche Welt kaum nothdürftig
zu ſchützen vermochte und eine italieniſche Großmacht noch nicht beſtand.
Der Friede zwiſchen Aegypten und der Pforte wurde nach orienta-
liſchem Herkommen von beiden Seiten unredlich gehalten. Sultan Mach-
mud dürſtete nach Rache an dem meuteriſchen Vaſallen, und der engliſche
Geſandte, der rückſichtsloſe alte Heißſporn Lord Ponſonby beſtärkte ihn in
ſeinem Haſſe, desgleichen deſſen Legationsſekretär Urquhart, der fanatiſche
Türkenſchwärmer. Mehemed Ali aber war durch das Kriegsglück ver-
wöhnt und ſchaltete in ſeinen neu errungenen Paſchaliks wie ein unab-
hängiger Fürſt. Er gewann die Freundſchaft des Tuilerienhofes, der ſchon
um Algeriens willen ſich der ägyptiſchen Flotte verſichern wollte, und die
begeiſterte Verehrung der Franzoſen. Wunderſame Märchen erzählten
den Pariſern von der genialen Herrſcherkraft dieſes Napoleon’s des Oſtens,
der als echter Orientale franzöſiſche Sitte und Sprache überall bevorzugte;
und bald galt es in Frankreich als ein politiſcher Glaubensſatz, daß nur
Mehemed Ali in dem erſtarrten Oriente ein neues Leben erwecken könne.
In Deutſchland war Fürſt Pückler-Muskau des Paſchas wärmſter Bewun-
derer. Der erregte allgemeines Aufſehen, als er von der Nilfahrt und
den Wüſtenritten heimgekehrt, im Feß auf arabiſchem Roſſe durch die
Straßen Wiens zog; bei Kaiſer Ferdinand ward er erſt vorgelaſſen nach-
dem er dem preußiſchen Geſandten verſprochen hatte, dieſen traurigen
Hof, der allerdings eine naturgetreue Schilderung kaum vertrug, in ſeinen
Reiſebüchern nicht zu erwähnen. *) Ueberall, in Wort und Schrift, ver-
kündete Semilaſſo den Ruhm des großen Aegypters.
In Wahrheit ſtand Mehemed Ali’s Macht bei Weitem nicht mehr
ſo feſt wie zur Zeit des letzten Krieges. Die ungebändigten Völker Sy-
riens ertrugen den Druck des aufgeklärten Despotismus ſchwerer als die
leidſamen Fellahs am Nil; ein Aufſtand ſchien nicht ausſichtslos, und
*) Maltzan’s Berichte, Jan. 1840.
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