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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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XXVIII. Die Ermordung des Studenten Lessing.
XXVIII. Die Ermordung des Studenten Lessing.

Zu Bd. IV. 606.

Ueber die räthselhafte Ermordung des angeblichen Spions Lessing (1835) konnte
ich im 4. Bande nur ein Non liquet aussprechen, da mir die dürftigen Ergebnisse der
überaus nachlässig geführten gerichtlichen Untersuchung ebenso unzuverlässig schienen wie
die leidenschaftlichen Behauptungen der zahlreichen in Folge der Blutthat erschienen Partei-
schriften. Neuerdings habe ich jedoch im Berliner Geh. Staatsarchiv eine Reihe von
Actenstücken aufgefunden, welche mindestens über Lessing's Persönlichkeit und politische
Haltung sichere Auskunft geben. Hier der wesentliche Inhalt.

Von dem Frankfurter Attentate war der preußische Polizeiminister schon mehrere
Monate vorher unterrichtet; er machte darüber dem Auswärtigen Amte ausführliche Mit-
theilungen, die nach Frankfurt weiter gegeben wurden. "Bei aufmerksamer Beobachtung"
hätte Alles entdeckt werden können; so sagten die Minister Kamptz, Mühler, Rochow in
ihrem nachträglichen Berichte an den König vom 26. Mai 1834. Sie erwarteten, "daß
die Frankfurter Behörden Sicherheitsmaßregeln treffen würden. Dies war aber keineswegs
der Fall. Selbst nach den bestimmten und ausführlichen Anzeigen, welche dem Magistrat
in Frankfurt a. M. am Tage der Meuterei zugingen, konnte derselbe zu keinen ange-
messenen Maßregeln bewogen werden." Hier wird also die von mir (IV. 300) ausge-
sprochene Vermuthung bestätigt, daß der Wachensturm vom 3. April 1833 nicht durch
die arglistige Berechnung der Bundesgesandten gefördert, sondern einfach durch die Schlaff-
heit der Frankfurter Behörden ermöglicht wurde. Angesichts dieser Schwäche der süd-
deutschen Polizei meinte die preußische Regierung sich um so mehr zur Wachsamkeit ver-
pflichtet. Schon am 14. April 1833 wurden die Minister Wittgenstein, Lottum, Brenn
durch Cabinetsordre beauftragt, wegen des Frankfurter Attentats "in fortlaufende ver-
trauliche Besprechungen zu treten".

Nachdem verschiedene polizeiliche Maßregeln getroffen waren, berichtete Minister
Brenn: der wegen politischer Umtriebe verhaftete stud. Ludwig Lessing, jüdischer Religion,
aus Freienwalde a. O. hätte sich am 6. Nov. gegen den Polizeipräsidenten zu Protokoll
erboten, "Entdeckungen" zu machen. Der König verfügte darauf (Cabinetsordre an
Brenn, 9. Nov. 1833): bewahrheiten sich die Mittheilungen des Lessing, "so will Ich
demselben Befreiung von aller Strafe und Unterstützung zur Fortsetzung seiner Studien
zusichern." Nun folgten lange Vernehmungen. Am 11. Jan. 1834 wurde berichtet,
daß Lessing die gewünschten, zuverlässigen Anzeigen erstattet hätte. Alsbald befahl der
König (Cabinetsordre vom 18. Jan. 1834 an Brenn, Kamptz, Mühler), 200 Thlr. für
das laufende Studienjahr Lessing's zu zahlen, und genehmigte zugleich, daß er "in der
von Ihnen vorgeschlagenen Art verwendet werde". Lessing wurde dann am 11. Febr.
aus der Untersuchungshaft entlassen (Schlußprotokoll vom 11. Febr.). Der Polizei-
präsident Gerlach vermahnte ihn, über die Untersuchung zu schweigen und sich von Um-
trieben fern zu halten; er gab ihm einen Ministerialpaß nach Karlsruhe und bemerkte
dazu kurz, daß Lessing später vielleicht nach der Schweiz, nach Italien oder Frankreich
reisen würde. (Gerlach's Bericht an Brenn, 10. März 1834.)

Demnach steht außer Zweifel, daß Lessing ein preußischer Spion war, wie der be-
rüchtigte Conseil ein Spion Ludwig Philipp's, und die Versammlungen des jungen
Deutschlands in der Schweiz nur besuchte um auszuhorchen und Bericht zu erstatten.
Mit großer Wahrscheinlichkeit läßt sich ferner schließen, daß Lessing's Ermordung wirklich
-- wie man sogleich in weiten Kreisen annahm -- eine That politischer Rache des jungen
Deutschlands gewesen ist. Allerdings wurde die Leiche beraubt aufgefunden. Aber unter
den Genossen des jungen Deutschlands in Zürich befanden sich mehrere ganz verkommene
Leute; unmöglich ist es also nicht, daß der oder die Mörder, indem sie einen politischen

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XXVIII. Die Ermordung des Studenten Leſſing.
XXVIII. Die Ermordung des Studenten Leſſing.

Zu Bd. IV. 606.

Ueber die räthſelhafte Ermordung des angeblichen Spions Leſſing (1835) konnte
ich im 4. Bande nur ein Non liquet ausſprechen, da mir die dürftigen Ergebniſſe der
überaus nachläſſig geführten gerichtlichen Unterſuchung ebenſo unzuverläſſig ſchienen wie
die leidenſchaftlichen Behauptungen der zahlreichen in Folge der Blutthat erſchienen Partei-
ſchriften. Neuerdings habe ich jedoch im Berliner Geh. Staatsarchiv eine Reihe von
Actenſtücken aufgefunden, welche mindeſtens über Leſſing’s Perſönlichkeit und politiſche
Haltung ſichere Auskunft geben. Hier der weſentliche Inhalt.

Von dem Frankfurter Attentate war der preußiſche Polizeiminiſter ſchon mehrere
Monate vorher unterrichtet; er machte darüber dem Auswärtigen Amte ausführliche Mit-
theilungen, die nach Frankfurt weiter gegeben wurden. „Bei aufmerkſamer Beobachtung“
hätte Alles entdeckt werden können; ſo ſagten die Miniſter Kamptz, Mühler, Rochow in
ihrem nachträglichen Berichte an den König vom 26. Mai 1834. Sie erwarteten, „daß
die Frankfurter Behörden Sicherheitsmaßregeln treffen würden. Dies war aber keineswegs
der Fall. Selbſt nach den beſtimmten und ausführlichen Anzeigen, welche dem Magiſtrat
in Frankfurt a. M. am Tage der Meuterei zugingen, konnte derſelbe zu keinen ange-
meſſenen Maßregeln bewogen werden.“ Hier wird alſo die von mir (IV. 300) ausge-
ſprochene Vermuthung beſtätigt, daß der Wachenſturm vom 3. April 1833 nicht durch
die argliſtige Berechnung der Bundesgeſandten gefördert, ſondern einfach durch die Schlaff-
heit der Frankfurter Behörden ermöglicht wurde. Angeſichts dieſer Schwäche der ſüd-
deutſchen Polizei meinte die preußiſche Regierung ſich um ſo mehr zur Wachſamkeit ver-
pflichtet. Schon am 14. April 1833 wurden die Miniſter Wittgenſtein, Lottum, Brenn
durch Cabinetsordre beauftragt, wegen des Frankfurter Attentats „in fortlaufende ver-
trauliche Beſprechungen zu treten“.

Nachdem verſchiedene polizeiliche Maßregeln getroffen waren, berichtete Miniſter
Brenn: der wegen politiſcher Umtriebe verhaftete stud. Ludwig Leſſing, jüdiſcher Religion,
aus Freienwalde a. O. hätte ſich am 6. Nov. gegen den Polizeipräſidenten zu Protokoll
erboten, „Entdeckungen“ zu machen. Der König verfügte darauf (Cabinetsordre an
Brenn, 9. Nov. 1833): bewahrheiten ſich die Mittheilungen des Leſſing, „ſo will Ich
demſelben Befreiung von aller Strafe und Unterſtützung zur Fortſetzung ſeiner Studien
zuſichern.“ Nun folgten lange Vernehmungen. Am 11. Jan. 1834 wurde berichtet,
daß Leſſing die gewünſchten, zuverläſſigen Anzeigen erſtattet hätte. Alsbald befahl der
König (Cabinetsordre vom 18. Jan. 1834 an Brenn, Kamptz, Mühler), 200 Thlr. für
das laufende Studienjahr Leſſing’s zu zahlen, und genehmigte zugleich, daß er „in der
von Ihnen vorgeſchlagenen Art verwendet werde“. Leſſing wurde dann am 11. Febr.
aus der Unterſuchungshaft entlaſſen (Schlußprotokoll vom 11. Febr.). Der Polizei-
präſident Gerlach vermahnte ihn, über die Unterſuchung zu ſchweigen und ſich von Um-
trieben fern zu halten; er gab ihm einen Miniſterialpaß nach Karlsruhe und bemerkte
dazu kurz, daß Leſſing ſpäter vielleicht nach der Schweiz, nach Italien oder Frankreich
reiſen würde. (Gerlach’s Bericht an Brenn, 10. März 1834.)

Demnach ſteht außer Zweifel, daß Leſſing ein preußiſcher Spion war, wie der be-
rüchtigte Conſeil ein Spion Ludwig Philipp’s, und die Verſammlungen des jungen
Deutſchlands in der Schweiz nur beſuchte um auszuhorchen und Bericht zu erſtatten.
Mit großer Wahrſcheinlichkeit läßt ſich ferner ſchließen, daß Leſſing’s Ermordung wirklich
— wie man ſogleich in weiten Kreiſen annahm — eine That politiſcher Rache des jungen
Deutſchlands geweſen iſt. Allerdings wurde die Leiche beraubt aufgefunden. Aber unter
den Genoſſen des jungen Deutſchlands in Zürich befanden ſich mehrere ganz verkommene
Leute; unmöglich iſt es alſo nicht, daß der oder die Mörder, indem ſie einen politiſchen

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[755/0769] XXVIII. Die Ermordung des Studenten Leſſing. XXVIII. Die Ermordung des Studenten Leſſing. Zu Bd. IV. 606. Ueber die räthſelhafte Ermordung des angeblichen Spions Leſſing (1835) konnte ich im 4. Bande nur ein Non liquet ausſprechen, da mir die dürftigen Ergebniſſe der überaus nachläſſig geführten gerichtlichen Unterſuchung ebenſo unzuverläſſig ſchienen wie die leidenſchaftlichen Behauptungen der zahlreichen in Folge der Blutthat erſchienen Partei- ſchriften. Neuerdings habe ich jedoch im Berliner Geh. Staatsarchiv eine Reihe von Actenſtücken aufgefunden, welche mindeſtens über Leſſing’s Perſönlichkeit und politiſche Haltung ſichere Auskunft geben. Hier der weſentliche Inhalt. Von dem Frankfurter Attentate war der preußiſche Polizeiminiſter ſchon mehrere Monate vorher unterrichtet; er machte darüber dem Auswärtigen Amte ausführliche Mit- theilungen, die nach Frankfurt weiter gegeben wurden. „Bei aufmerkſamer Beobachtung“ hätte Alles entdeckt werden können; ſo ſagten die Miniſter Kamptz, Mühler, Rochow in ihrem nachträglichen Berichte an den König vom 26. Mai 1834. Sie erwarteten, „daß die Frankfurter Behörden Sicherheitsmaßregeln treffen würden. Dies war aber keineswegs der Fall. Selbſt nach den beſtimmten und ausführlichen Anzeigen, welche dem Magiſtrat in Frankfurt a. M. am Tage der Meuterei zugingen, konnte derſelbe zu keinen ange- meſſenen Maßregeln bewogen werden.“ Hier wird alſo die von mir (IV. 300) ausge- ſprochene Vermuthung beſtätigt, daß der Wachenſturm vom 3. April 1833 nicht durch die argliſtige Berechnung der Bundesgeſandten gefördert, ſondern einfach durch die Schlaff- heit der Frankfurter Behörden ermöglicht wurde. Angeſichts dieſer Schwäche der ſüd- deutſchen Polizei meinte die preußiſche Regierung ſich um ſo mehr zur Wachſamkeit ver- pflichtet. Schon am 14. April 1833 wurden die Miniſter Wittgenſtein, Lottum, Brenn durch Cabinetsordre beauftragt, wegen des Frankfurter Attentats „in fortlaufende ver- trauliche Beſprechungen zu treten“. Nachdem verſchiedene polizeiliche Maßregeln getroffen waren, berichtete Miniſter Brenn: der wegen politiſcher Umtriebe verhaftete stud. Ludwig Leſſing, jüdiſcher Religion, aus Freienwalde a. O. hätte ſich am 6. Nov. gegen den Polizeipräſidenten zu Protokoll erboten, „Entdeckungen“ zu machen. Der König verfügte darauf (Cabinetsordre an Brenn, 9. Nov. 1833): bewahrheiten ſich die Mittheilungen des Leſſing, „ſo will Ich demſelben Befreiung von aller Strafe und Unterſtützung zur Fortſetzung ſeiner Studien zuſichern.“ Nun folgten lange Vernehmungen. Am 11. Jan. 1834 wurde berichtet, daß Leſſing die gewünſchten, zuverläſſigen Anzeigen erſtattet hätte. Alsbald befahl der König (Cabinetsordre vom 18. Jan. 1834 an Brenn, Kamptz, Mühler), 200 Thlr. für das laufende Studienjahr Leſſing’s zu zahlen, und genehmigte zugleich, daß er „in der von Ihnen vorgeſchlagenen Art verwendet werde“. Leſſing wurde dann am 11. Febr. aus der Unterſuchungshaft entlaſſen (Schlußprotokoll vom 11. Febr.). Der Polizei- präſident Gerlach vermahnte ihn, über die Unterſuchung zu ſchweigen und ſich von Um- trieben fern zu halten; er gab ihm einen Miniſterialpaß nach Karlsruhe und bemerkte dazu kurz, daß Leſſing ſpäter vielleicht nach der Schweiz, nach Italien oder Frankreich reiſen würde. (Gerlach’s Bericht an Brenn, 10. März 1834.) Demnach ſteht außer Zweifel, daß Leſſing ein preußiſcher Spion war, wie der be- rüchtigte Conſeil ein Spion Ludwig Philipp’s, und die Verſammlungen des jungen Deutſchlands in der Schweiz nur beſuchte um auszuhorchen und Bericht zu erſtatten. Mit großer Wahrſcheinlichkeit läßt ſich ferner ſchließen, daß Leſſing’s Ermordung wirklich — wie man ſogleich in weiten Kreiſen annahm — eine That politiſcher Rache des jungen Deutſchlands geweſen iſt. Allerdings wurde die Leiche beraubt aufgefunden. Aber unter den Genoſſen des jungen Deutſchlands in Zürich befanden ſich mehrere ganz verkommene Leute; unmöglich iſt es alſo nicht, daß der oder die Mörder, indem ſie einen politiſchen 48*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 755. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/769>, abgerufen am 13.11.2024.