nachricht in Jena eingetroffen war, nach Wunsiedel abgereist um Sand's unglückliche Eltern zu unterrichten, und man begnügte sich vorläufig, ohne jeden Erfolg, eine Haus- suchung bei ihm vorzunehmen. Erst am 7. April, mehrere Tage nach seiner Rückkehr, stellte sich Asmis der Commission -- so gemüthlich ging Alles zu. Er erklärte unschuldig, das Verfahren gegen ihn hätte ihn "frappirt", darum komme er so spät. Die Com- mission nannte ihn ganz richtig einen gutmüthigen, unbedeutenden, sehr unbeholfenen, treuherzigen Menschen, der den Mörder herzlich liebe und als politischer Schwärmer wohl zu mancher Tollheit fähig sei. Für einige Zeit wurde er zur Untersuchungshaft in das Carcer abgeführt. Bei den späteren Verhören stellte sich aber ganz unzweifelhaft heraus, daß der junge Mann von den Mordplänen seines Freundes nicht das Mindeste geahnt hatte, sonst hätte er sie sicherlich vereitelt; "Mord bleibt Mord" sagte er ehrlich.
Ganz anders verlief die Untersuchung gegen Dr. Carl Follen (oder Follenius, wie er sich damals noch nannte). Follen trat fest und trotzig auf, mit der Sicherheit eines gewandten Advocaten; bei heiklen Fragen zeigte er stets eine erstaunliche Gedächtniß- schwäche, die dem berechnenden, willensstarken Manne wunderlich anstand; er spielte mit der Commission wie die Katze mit der Maus. In diesem kleinen Robespierre lag eine starke terroristische Kraft. Die Briefe der Freunde nannten ihn oft "einen überwiegenden Menschen", der jeden Anderen sittlich zermalmen und zerknirschen könne; einmal baten sie ihn, einen hitzköpfigen jungen Genossen von unvorsichtigen politischen Aeußerungen abzuhalten, er allein vermöge das. Da Follen im ersten Verhöre (2. April) sich an nichts mehr recht erinnern konnte, so wurde sofort Haussuchung bei ihm gehalten. Er sah ruhig mit an, wie der Universitätssecretär und ein Registrator seine Papiere zusammen- suchten. Plötzlich nahm er ein Papier aus dem Haufen -- ein an ihn selbst adressirtes Schreiben aus Eisenach vom Februar -- steckte das Schriftstück in die Tasche und er- klärte: dieser Brief gehöre seinem Bruder -- was sich späterhin als unwahr erwies. Dann eilte er aus dem Zimmer und kehrte erst nach einigen Minuten zurück. Nunmehr führten ihn die erschrockenen Beamten alsbald wieder vor die Commission. Hier versprach er seinen Bruder um die Erlaubniß zur Herausgabe des Briefes zu bitten, er ging hinweg und überbrachte nach längerer Frist die Meldung: sein Bruder verweigere die Auslieferung. Jetzt endlich gelangte die Commission zu dem weisen Schlusse: der Brief sei wohl schon vernichtet, und man müsse in Eisenach dem wahrscheinlichen Absender nachforschen. Follen blieb auf freiem Fuße und benutzte die Zeit um mit Asmis zu verhandeln. Einige Leute auf der Gasse sahen ihn, wie er aus einem dichtbenachbarten Hause, aus dem Fenster des stud. v. Wintzingerode mit dem gefangenen Asmis im Carcer sprach; ein Student stand mit am Fenster, mehrere der Zeugen glaubten, das wäre Wintzingerode selbst gewesen. Selbst die Commission konnte sich jetzt der Ver- muthung nicht erwehren, daß dort Collusion getrieben worden sei. Follen aber be- hauptete, er hätte den Gefangenen nur freundschaftlich begrüßt, und als man ihn sodann nach jenem Studenten, dem einzigen Ohrenzeugen des Zwiegesprächs befragte, da wurde er wieder von seiner krankhaften Gedächtnißschwäche befallen (Protocoll vom 3. Mai). Er konnte sich auf den jungen Mann schlechterdings nicht besinnen, und das Gespräch war doch erst vor wenigen Tagen abgehalten worden. Tags darauf, am 4. Mai wurde er von dem Universitätssecretär nochmals vernommen; wieder konnte er sich an nichts mehr erinnern, indeß versprach er bis zum Ende der Woche mitzutheilen, ob ihm der Name inzwischen eingefallen wäre. Am 7. Mai schrieb er in der That an die Com- mission: er wisse nichts; "die Sache war mir damals so unbedeutend, und mein Ge- bächtniß ist für solche mir unbedeutende Dinge so schwach." Der geniale Gedanke nunmehr Wintzingerode selbst zu befragen, scheint der Commission nicht aufgestiegen zu sein; die Protocolle wenigstens sagen nichts darüber.
Bei einem so urgemüthlichen Verfahren hatte die grundsätzliche Verlogenheit der Unbedingten leichtes Spiel. Aus verschiedenen Anzeichen und Aussagen ergab sich mit höchster Wahrscheinlichkeit, daß Follen, obgleich er selbst in beschränkten Verhältnissen
XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft.
nachricht in Jena eingetroffen war, nach Wunſiedel abgereiſt um Sand’s unglückliche Eltern zu unterrichten, und man begnügte ſich vorläufig, ohne jeden Erfolg, eine Haus- ſuchung bei ihm vorzunehmen. Erſt am 7. April, mehrere Tage nach ſeiner Rückkehr, ſtellte ſich Asmis der Commiſſion — ſo gemüthlich ging Alles zu. Er erklärte unſchuldig, das Verfahren gegen ihn hätte ihn „frappirt“, darum komme er ſo ſpät. Die Com- miſſion nannte ihn ganz richtig einen gutmüthigen, unbedeutenden, ſehr unbeholfenen, treuherzigen Menſchen, der den Mörder herzlich liebe und als politiſcher Schwärmer wohl zu mancher Tollheit fähig ſei. Für einige Zeit wurde er zur Unterſuchungshaft in das Carcer abgeführt. Bei den ſpäteren Verhören ſtellte ſich aber ganz unzweifelhaft heraus, daß der junge Mann von den Mordplänen ſeines Freundes nicht das Mindeſte geahnt hatte, ſonſt hätte er ſie ſicherlich vereitelt; „Mord bleibt Mord“ ſagte er ehrlich.
Ganz anders verlief die Unterſuchung gegen Dr. Carl Follen (oder Follenius, wie er ſich damals noch nannte). Follen trat feſt und trotzig auf, mit der Sicherheit eines gewandten Advocaten; bei heiklen Fragen zeigte er ſtets eine erſtaunliche Gedächtniß- ſchwäche, die dem berechnenden, willensſtarken Manne wunderlich anſtand; er ſpielte mit der Commiſſion wie die Katze mit der Maus. In dieſem kleinen Robespierre lag eine ſtarke terroriſtiſche Kraft. Die Briefe der Freunde nannten ihn oft „einen überwiegenden Menſchen“, der jeden Anderen ſittlich zermalmen und zerknirſchen könne; einmal baten ſie ihn, einen hitzköpfigen jungen Genoſſen von unvorſichtigen politiſchen Aeußerungen abzuhalten, er allein vermöge das. Da Follen im erſten Verhöre (2. April) ſich an nichts mehr recht erinnern konnte, ſo wurde ſofort Hausſuchung bei ihm gehalten. Er ſah ruhig mit an, wie der Univerſitätsſecretär und ein Regiſtrator ſeine Papiere zuſammen- ſuchten. Plötzlich nahm er ein Papier aus dem Haufen — ein an ihn ſelbſt adreſſirtes Schreiben aus Eiſenach vom Februar — ſteckte das Schriftſtück in die Taſche und er- klärte: dieſer Brief gehöre ſeinem Bruder — was ſich ſpäterhin als unwahr erwies. Dann eilte er aus dem Zimmer und kehrte erſt nach einigen Minuten zurück. Nunmehr führten ihn die erſchrockenen Beamten alsbald wieder vor die Commiſſion. Hier verſprach er ſeinen Bruder um die Erlaubniß zur Herausgabe des Briefes zu bitten, er ging hinweg und überbrachte nach längerer Friſt die Meldung: ſein Bruder verweigere die Auslieferung. Jetzt endlich gelangte die Commiſſion zu dem weiſen Schluſſe: der Brief ſei wohl ſchon vernichtet, und man müſſe in Eiſenach dem wahrſcheinlichen Abſender nachforſchen. Follen blieb auf freiem Fuße und benutzte die Zeit um mit Asmis zu verhandeln. Einige Leute auf der Gaſſe ſahen ihn, wie er aus einem dichtbenachbarten Hauſe, aus dem Fenſter des stud. v. Wintzingerode mit dem gefangenen Asmis im Carcer ſprach; ein Student ſtand mit am Fenſter, mehrere der Zeugen glaubten, das wäre Wintzingerode ſelbſt geweſen. Selbſt die Commiſſion konnte ſich jetzt der Ver- muthung nicht erwehren, daß dort Colluſion getrieben worden ſei. Follen aber be- hauptete, er hätte den Gefangenen nur freundſchaftlich begrüßt, und als man ihn ſodann nach jenem Studenten, dem einzigen Ohrenzeugen des Zwiegeſprächs befragte, da wurde er wieder von ſeiner krankhaften Gedächtnißſchwäche befallen (Protocoll vom 3. Mai). Er konnte ſich auf den jungen Mann ſchlechterdings nicht beſinnen, und das Geſpräch war doch erſt vor wenigen Tagen abgehalten worden. Tags darauf, am 4. Mai wurde er von dem Univerſitätsſecretär nochmals vernommen; wieder konnte er ſich an nichts mehr erinnern, indeß verſprach er bis zum Ende der Woche mitzutheilen, ob ihm der Name inzwiſchen eingefallen wäre. Am 7. Mai ſchrieb er in der That an die Com- miſſion: er wiſſe nichts; „die Sache war mir damals ſo unbedeutend, und mein Ge- bächtniß iſt für ſolche mir unbedeutende Dinge ſo ſchwach.“ Der geniale Gedanke nunmehr Wintzingerode ſelbſt zu befragen, ſcheint der Commiſſion nicht aufgeſtiegen zu ſein; die Protocolle wenigſtens ſagen nichts darüber.
Bei einem ſo urgemüthlichen Verfahren hatte die grundſätzliche Verlogenheit der Unbedingten leichtes Spiel. Aus verſchiedenen Anzeichen und Ausſagen ergab ſich mit höchſter Wahrſcheinlichkeit, daß Follen, obgleich er ſelbſt in beſchränkten Verhältniſſen
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[746/0760]
XXVI. Zur Geſchichte der Burſchenſchaft.
nachricht in Jena eingetroffen war, nach Wunſiedel abgereiſt um Sand’s unglückliche
Eltern zu unterrichten, und man begnügte ſich vorläufig, ohne jeden Erfolg, eine Haus-
ſuchung bei ihm vorzunehmen. Erſt am 7. April, mehrere Tage nach ſeiner Rückkehr,
ſtellte ſich Asmis der Commiſſion — ſo gemüthlich ging Alles zu. Er erklärte unſchuldig,
das Verfahren gegen ihn hätte ihn „frappirt“, darum komme er ſo ſpät. Die Com-
miſſion nannte ihn ganz richtig einen gutmüthigen, unbedeutenden, ſehr unbeholfenen,
treuherzigen Menſchen, der den Mörder herzlich liebe und als politiſcher Schwärmer
wohl zu mancher Tollheit fähig ſei. Für einige Zeit wurde er zur Unterſuchungshaft
in das Carcer abgeführt. Bei den ſpäteren Verhören ſtellte ſich aber ganz unzweifelhaft
heraus, daß der junge Mann von den Mordplänen ſeines Freundes nicht das Mindeſte
geahnt hatte, ſonſt hätte er ſie ſicherlich vereitelt; „Mord bleibt Mord“ ſagte er ehrlich.
Ganz anders verlief die Unterſuchung gegen Dr. Carl Follen (oder Follenius, wie
er ſich damals noch nannte). Follen trat feſt und trotzig auf, mit der Sicherheit eines
gewandten Advocaten; bei heiklen Fragen zeigte er ſtets eine erſtaunliche Gedächtniß-
ſchwäche, die dem berechnenden, willensſtarken Manne wunderlich anſtand; er ſpielte mit
der Commiſſion wie die Katze mit der Maus. In dieſem kleinen Robespierre lag eine
ſtarke terroriſtiſche Kraft. Die Briefe der Freunde nannten ihn oft „einen überwiegenden
Menſchen“, der jeden Anderen ſittlich zermalmen und zerknirſchen könne; einmal baten
ſie ihn, einen hitzköpfigen jungen Genoſſen von unvorſichtigen politiſchen Aeußerungen
abzuhalten, er allein vermöge das. Da Follen im erſten Verhöre (2. April) ſich an
nichts mehr recht erinnern konnte, ſo wurde ſofort Hausſuchung bei ihm gehalten. Er ſah
ruhig mit an, wie der Univerſitätsſecretär und ein Regiſtrator ſeine Papiere zuſammen-
ſuchten. Plötzlich nahm er ein Papier aus dem Haufen — ein an ihn ſelbſt adreſſirtes
Schreiben aus Eiſenach vom Februar — ſteckte das Schriftſtück in die Taſche und er-
klärte: dieſer Brief gehöre ſeinem Bruder — was ſich ſpäterhin als unwahr erwies.
Dann eilte er aus dem Zimmer und kehrte erſt nach einigen Minuten zurück. Nunmehr
führten ihn die erſchrockenen Beamten alsbald wieder vor die Commiſſion. Hier verſprach
er ſeinen Bruder um die Erlaubniß zur Herausgabe des Briefes zu bitten, er ging
hinweg und überbrachte nach längerer Friſt die Meldung: ſein Bruder verweigere die
Auslieferung. Jetzt endlich gelangte die Commiſſion zu dem weiſen Schluſſe: der Brief
ſei wohl ſchon vernichtet, und man müſſe in Eiſenach dem wahrſcheinlichen Abſender
nachforſchen. Follen blieb auf freiem Fuße und benutzte die Zeit um mit Asmis zu
verhandeln. Einige Leute auf der Gaſſe ſahen ihn, wie er aus einem dichtbenachbarten
Hauſe, aus dem Fenſter des stud. v. Wintzingerode mit dem gefangenen Asmis im
Carcer ſprach; ein Student ſtand mit am Fenſter, mehrere der Zeugen glaubten, das
wäre Wintzingerode ſelbſt geweſen. Selbſt die Commiſſion konnte ſich jetzt der Ver-
muthung nicht erwehren, daß dort Colluſion getrieben worden ſei. Follen aber be-
hauptete, er hätte den Gefangenen nur freundſchaftlich begrüßt, und als man ihn ſodann
nach jenem Studenten, dem einzigen Ohrenzeugen des Zwiegeſprächs befragte, da wurde
er wieder von ſeiner krankhaften Gedächtnißſchwäche befallen (Protocoll vom 3. Mai).
Er konnte ſich auf den jungen Mann ſchlechterdings nicht beſinnen, und das Geſpräch
war doch erſt vor wenigen Tagen abgehalten worden. Tags darauf, am 4. Mai wurde
er von dem Univerſitätsſecretär nochmals vernommen; wieder konnte er ſich an nichts
mehr erinnern, indeß verſprach er bis zum Ende der Woche mitzutheilen, ob ihm der
Name inzwiſchen eingefallen wäre. Am 7. Mai ſchrieb er in der That an die Com-
miſſion: er wiſſe nichts; „die Sache war mir damals ſo unbedeutend, und mein Ge-
bächtniß iſt für ſolche mir unbedeutende Dinge ſo ſchwach.“ Der geniale Gedanke nunmehr
Wintzingerode ſelbſt zu befragen, ſcheint der Commiſſion nicht aufgeſtiegen zu ſein; die
Protocolle wenigſtens ſagen nichts darüber.
Bei einem ſo urgemüthlichen Verfahren hatte die grundſätzliche Verlogenheit der
Unbedingten leichtes Spiel. Aus verſchiedenen Anzeichen und Ausſagen ergab ſich mit
höchſter Wahrſcheinlichkeit, daß Follen, obgleich er ſelbſt in beſchränkten Verhältniſſen
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 746. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/760>, abgerufen am 27.11.2024.
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