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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Neutralität Neuenburgs.
den natürlichen Kern einer im Stillen wachsenden demokratischen Oppo-
sition, die den dynastischen Sinn der Eingeborenen als unschweizerisch,
den aristokratischen Staatsrath als reaktionär verhöhnte.

Als der neue König nach dem Dombaufeste das Fürstenthum besuchte,
da jubelte ihm das freie Volk überall so herzlich entgegen, daß jeder Un-
befangene fühlen mußte, eine Republik Neuenburg wäre eine ebensolche
historische Ungeheuerlichkeit wie etwa ein Herzogthum Bern oder ein Fürsten-
thum Luzern; auch die Gesandten Muralt und Ruchet, welche dem Könige
die Grüße der Tagsatzung überbrachten, nahmen aus dem wohlgeordneten
und zufriedenen Ländchen sehr günstige Eindrücke mit hinweg. Nachdem
der staatsmännische Plan, dem Fürstenthum wieder die althistorische Stellung
eines zugewandten Ortes zuzuweisen, durch Metternich's Gedankenlosigkeit
leider vereitelt worden war,*) gerieth der fürstliche Canton auf der Tag-
satzung bald in eine tragische Lage. Er stimmte stets untadelhaft nach
dem Buchstaben des Bundesrechts und hielt treulich das alte Versprechen,
das die Vertreter der Eidgenossenschaft alljährlich neu beschwören mußten:
"mit allen Cantonen als gute Verbündete und Freunde zu leben." Strenge
Gerechtigkeit bleibt immer ehrwürdig; doch in Zeiten, die nach der Neu-
gestaltung eines verlebten Rechts verlangen, wird sie politisch unfruchtbar,
ja sie ward hier schlechthin unmöglich, seit der kirchliche Streit sich so
verhängnißvoll mit dem politischen verkettete. Für die rechtswidrige Ver-
gewaltigung der Sonderbundscantone durften die Neuenburger Conserva-
tiven nicht eintreten, schon weil die radicale Mehrheit die hohenzollern'sche
Fürstengewalt offen oder heimlich bekämpfte; doch ebenso wenig konnte dieser
altprotestantische Canton, dies Land wo einst der Reformator Farel gelehrt
hatte, die Partei der Jesuiten ergreifen. So blieb nichts übrig als eine
gefährliche Neutralität, die auch vom Berliner Hofe gebilligt wurde. Als
nun in der Tagsatzung der Krieg verlangt ward, da sagte Chambrier in
feuriger Rede (29. Oct. 1847): in diesem gottlosen Kampfe handelt es
sich weniger um eine Kriegsfrage als um Vernichtung (d'une question
de meurtre);
und doch wollte er sich auch nicht für den katholischen Sonder-
bund erklären, sondern forderte für seinen Canton Neutralität, Befreiung
von der Pflicht eidgenössischer Heeresfolge. Die Bitte ward natürlich ab-
geschlagen; vor den Waffen schwiegen die Gesetze.

Auf diesen entscheidenden Wendepunkt der Geschicke Neuenburgs mußte
man in Berlin bei einiger Voraussicht längst vorbereitet sein. Dort
wurden aber die Angelegenheiten des kleinen Fürstenthums mit sündlicher
Sorglosigkeit behandelt. Das neuenburgische Departement des Auswärtigen
Amts, dem auch der tüchtige Friedrich Chambrier der Jüngere angehörte,
erledigte die laufenden Geschäfte des Cantons mit der gewohnten preu-
ßischen Beamten-Pünktlichkeit. Der einzige Preuße im Canton, der Gou-

*) S. o. IV. 519.

Neutralität Neuenburgs.
den natürlichen Kern einer im Stillen wachſenden demokratiſchen Oppo-
ſition, die den dynaſtiſchen Sinn der Eingeborenen als unſchweizeriſch,
den ariſtokratiſchen Staatsrath als reaktionär verhöhnte.

Als der neue König nach dem Dombaufeſte das Fürſtenthum beſuchte,
da jubelte ihm das freie Volk überall ſo herzlich entgegen, daß jeder Un-
befangene fühlen mußte, eine Republik Neuenburg wäre eine ebenſolche
hiſtoriſche Ungeheuerlichkeit wie etwa ein Herzogthum Bern oder ein Fürſten-
thum Luzern; auch die Geſandten Muralt und Ruchet, welche dem Könige
die Grüße der Tagſatzung überbrachten, nahmen aus dem wohlgeordneten
und zufriedenen Ländchen ſehr günſtige Eindrücke mit hinweg. Nachdem
der ſtaatsmänniſche Plan, dem Fürſtenthum wieder die althiſtoriſche Stellung
eines zugewandten Ortes zuzuweiſen, durch Metternich’s Gedankenloſigkeit
leider vereitelt worden war,*) gerieth der fürſtliche Canton auf der Tag-
ſatzung bald in eine tragiſche Lage. Er ſtimmte ſtets untadelhaft nach
dem Buchſtaben des Bundesrechts und hielt treulich das alte Verſprechen,
das die Vertreter der Eidgenoſſenſchaft alljährlich neu beſchwören mußten:
„mit allen Cantonen als gute Verbündete und Freunde zu leben.“ Strenge
Gerechtigkeit bleibt immer ehrwürdig; doch in Zeiten, die nach der Neu-
geſtaltung eines verlebten Rechts verlangen, wird ſie politiſch unfruchtbar,
ja ſie ward hier ſchlechthin unmöglich, ſeit der kirchliche Streit ſich ſo
verhängnißvoll mit dem politiſchen verkettete. Für die rechtswidrige Ver-
gewaltigung der Sonderbundscantone durften die Neuenburger Conſerva-
tiven nicht eintreten, ſchon weil die radicale Mehrheit die hohenzollern’ſche
Fürſtengewalt offen oder heimlich bekämpfte; doch ebenſo wenig konnte dieſer
altproteſtantiſche Canton, dies Land wo einſt der Reformator Farel gelehrt
hatte, die Partei der Jeſuiten ergreifen. So blieb nichts übrig als eine
gefährliche Neutralität, die auch vom Berliner Hofe gebilligt wurde. Als
nun in der Tagſatzung der Krieg verlangt ward, da ſagte Chambrier in
feuriger Rede (29. Oct. 1847): in dieſem gottloſen Kampfe handelt es
ſich weniger um eine Kriegsfrage als um Vernichtung (d’une question
de meurtre);
und doch wollte er ſich auch nicht für den katholiſchen Sonder-
bund erklären, ſondern forderte für ſeinen Canton Neutralität, Befreiung
von der Pflicht eidgenöſſiſcher Heeresfolge. Die Bitte ward natürlich ab-
geſchlagen; vor den Waffen ſchwiegen die Geſetze.

Auf dieſen entſcheidenden Wendepunkt der Geſchicke Neuenburgs mußte
man in Berlin bei einiger Vorausſicht längſt vorbereitet ſein. Dort
wurden aber die Angelegenheiten des kleinen Fürſtenthums mit ſündlicher
Sorgloſigkeit behandelt. Das neuenburgiſche Departement des Auswärtigen
Amts, dem auch der tüchtige Friedrich Chambrier der Jüngere angehörte,
erledigte die laufenden Geſchäfte des Cantons mit der gewohnten preu-
ßiſchen Beamten-Pünktlichkeit. Der einzige Preuße im Canton, der Gou-

*) S. o. IV. 519.
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[735/0749] Neutralität Neuenburgs. den natürlichen Kern einer im Stillen wachſenden demokratiſchen Oppo- ſition, die den dynaſtiſchen Sinn der Eingeborenen als unſchweizeriſch, den ariſtokratiſchen Staatsrath als reaktionär verhöhnte. Als der neue König nach dem Dombaufeſte das Fürſtenthum beſuchte, da jubelte ihm das freie Volk überall ſo herzlich entgegen, daß jeder Un- befangene fühlen mußte, eine Republik Neuenburg wäre eine ebenſolche hiſtoriſche Ungeheuerlichkeit wie etwa ein Herzogthum Bern oder ein Fürſten- thum Luzern; auch die Geſandten Muralt und Ruchet, welche dem Könige die Grüße der Tagſatzung überbrachten, nahmen aus dem wohlgeordneten und zufriedenen Ländchen ſehr günſtige Eindrücke mit hinweg. Nachdem der ſtaatsmänniſche Plan, dem Fürſtenthum wieder die althiſtoriſche Stellung eines zugewandten Ortes zuzuweiſen, durch Metternich’s Gedankenloſigkeit leider vereitelt worden war, *) gerieth der fürſtliche Canton auf der Tag- ſatzung bald in eine tragiſche Lage. Er ſtimmte ſtets untadelhaft nach dem Buchſtaben des Bundesrechts und hielt treulich das alte Verſprechen, das die Vertreter der Eidgenoſſenſchaft alljährlich neu beſchwören mußten: „mit allen Cantonen als gute Verbündete und Freunde zu leben.“ Strenge Gerechtigkeit bleibt immer ehrwürdig; doch in Zeiten, die nach der Neu- geſtaltung eines verlebten Rechts verlangen, wird ſie politiſch unfruchtbar, ja ſie ward hier ſchlechthin unmöglich, ſeit der kirchliche Streit ſich ſo verhängnißvoll mit dem politiſchen verkettete. Für die rechtswidrige Ver- gewaltigung der Sonderbundscantone durften die Neuenburger Conſerva- tiven nicht eintreten, ſchon weil die radicale Mehrheit die hohenzollern’ſche Fürſtengewalt offen oder heimlich bekämpfte; doch ebenſo wenig konnte dieſer altproteſtantiſche Canton, dies Land wo einſt der Reformator Farel gelehrt hatte, die Partei der Jeſuiten ergreifen. So blieb nichts übrig als eine gefährliche Neutralität, die auch vom Berliner Hofe gebilligt wurde. Als nun in der Tagſatzung der Krieg verlangt ward, da ſagte Chambrier in feuriger Rede (29. Oct. 1847): in dieſem gottloſen Kampfe handelt es ſich weniger um eine Kriegsfrage als um Vernichtung (d’une question de meurtre); und doch wollte er ſich auch nicht für den katholiſchen Sonder- bund erklären, ſondern forderte für ſeinen Canton Neutralität, Befreiung von der Pflicht eidgenöſſiſcher Heeresfolge. Die Bitte ward natürlich ab- geſchlagen; vor den Waffen ſchwiegen die Geſetze. Auf dieſen entſcheidenden Wendepunkt der Geſchicke Neuenburgs mußte man in Berlin bei einiger Vorausſicht längſt vorbereitet ſein. Dort wurden aber die Angelegenheiten des kleinen Fürſtenthums mit ſündlicher Sorgloſigkeit behandelt. Das neuenburgiſche Departement des Auswärtigen Amts, dem auch der tüchtige Friedrich Chambrier der Jüngere angehörte, erledigte die laufenden Geſchäfte des Cantons mit der gewohnten preu- ßiſchen Beamten-Pünktlichkeit. Der einzige Preuße im Canton, der Gou- *) S. o. IV. 519.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 735. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/749>, abgerufen am 22.11.2024.