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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 10. Vorboten der europäischen Revolution.
dieses classischen Landes föderativer Staatsbildung eine historische Noth-
wendigkeit: die Natur der Dinge drängte dahin, daß die Schweiz jede
Verbindung mit dem Auslande auflöste und den alten Unterschied von
Stadt und Land, von Herrenlanden und Unterthanenlanden beseitigte.
Dies zweifache Ziel war im Jahre 1815 nahezu erreicht: die Eidgenossen-
schaft bestand nur noch aus zweiundzwanzig gleichberechtigten Cantonen.
Nunmehr begann eine ebenso nothwendige demokratische Bewegung; die tüch-
tigen, um die alte Schweiz so hochverdienten Patriciergeschlechter vermochten
nur noch in Basel, in Neuenburg und wenigen anderen Cantonen ihre
geistige und wirthschaftliche Ueberlegenheit zu behaupten, der Mittelstand
drängte sich überall kräftig empor. Seit der Juli-Revolution ließ sich schon
deutlich erkennen, daß die Schweiz der repräsentativen Demokratie zustrebte;
der aristokratische Kleine Rath verlor fast allerorten an Ansehen, die Canto-
nalgewalt gerieth mehr und mehr in die Hände der Volksvertretung, des
demokratischen Großen Rathes. Die aufstrebende Demokratie verlangte
zugleich eine stärkere Bundesgewalt, wie sie schon einmal, unter der na-
poleonischen Mediationsacte, zum Heile des Landes bestanden hatte.

Aber diese, im Wesentlichen nothwendige Veränderung des schweizerischen
Lebens betrachteten die großen Mächte von vornherein ungerecht, mit
legitimistischer Verblendung. Sie waren sämmtlich, nicht mit Unrecht,
erbittert über die unzuverlässige, bald harte, bald schlaffe Haltung, welche
die Eidgenossen gegenüber den Flüchtlingen gezeigt hatten. Sie nahmen
kurzweg an, daß der schweizerische Radicalismus, der in seinem Kerne
ganz national war und alles ausländische Wesen fast unduldsam abwies,
mit den Umsturzparteien des gesammten Welttheils zusammen arbeitete.
Ueberdies standen die alten Herrengeschlechter der Schweiz, deren große
Zeit jetzt zu Ende ging, allesammt mit den großen Höfen in persönlicher
Verbindung. Die katholischen Conservativen unterhielten durch Haller,
Hurter, Bernhard Meyer und andere fanatische Ultramontane vertrauten
Verkehr mit Metternich; die Genfer Patricier waren Guizot's und Broglie's
alte Freunde, die Neuenburger Aristokraten das getreue Lehensvolk der
Krone Preußen. Schon der Name der Radicalen, der in der Schweiz
doch etwas ganz anderes bedeutete als in den benachbarten Monarchien,
schreckte die Diplomaten ab; die fremden Gesandten verkehrten ausschließlich
mit schweizerischen Conservativen, weil ihnen der Wirthshauston der radicalen
Gesellschaft nicht zusagte, und erstatteten ihren Höfen stets parteiisch ge-
färbte Berichte. Was die Höfe von Paris und Wien so gehässig gegen
die Schweizer stimmte, war doch vornehmlich die Angst vor Deutschlands
Erstarken. Metternich zitterte bei dem Gedanken, daß die deutschen
Patrioten sich an den schweizerischen Radicalen ein Beispiel nehmen könnten;
Guizot sprach mit Entsetzen von "dem Großstaats-Ehrgeiz" der Schweizer,
von der Möglichkeit einer furchtbaren helvetischen Einheitsrepublik, gleich
als ob Frankreich vor der Schweiz zittern müßte; und König Friedrich

V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
dieſes claſſiſchen Landes föderativer Staatsbildung eine hiſtoriſche Noth-
wendigkeit: die Natur der Dinge drängte dahin, daß die Schweiz jede
Verbindung mit dem Auslande auflöſte und den alten Unterſchied von
Stadt und Land, von Herrenlanden und Unterthanenlanden beſeitigte.
Dies zweifache Ziel war im Jahre 1815 nahezu erreicht: die Eidgenoſſen-
ſchaft beſtand nur noch aus zweiundzwanzig gleichberechtigten Cantonen.
Nunmehr begann eine ebenſo nothwendige demokratiſche Bewegung; die tüch-
tigen, um die alte Schweiz ſo hochverdienten Patriciergeſchlechter vermochten
nur noch in Baſel, in Neuenburg und wenigen anderen Cantonen ihre
geiſtige und wirthſchaftliche Ueberlegenheit zu behaupten, der Mittelſtand
drängte ſich überall kräftig empor. Seit der Juli-Revolution ließ ſich ſchon
deutlich erkennen, daß die Schweiz der repräſentativen Demokratie zuſtrebte;
der ariſtokratiſche Kleine Rath verlor faſt allerorten an Anſehen, die Canto-
nalgewalt gerieth mehr und mehr in die Hände der Volksvertretung, des
demokratiſchen Großen Rathes. Die aufſtrebende Demokratie verlangte
zugleich eine ſtärkere Bundesgewalt, wie ſie ſchon einmal, unter der na-
poleoniſchen Mediationsacte, zum Heile des Landes beſtanden hatte.

Aber dieſe, im Weſentlichen nothwendige Veränderung des ſchweizeriſchen
Lebens betrachteten die großen Mächte von vornherein ungerecht, mit
legitimiſtiſcher Verblendung. Sie waren ſämmtlich, nicht mit Unrecht,
erbittert über die unzuverläſſige, bald harte, bald ſchlaffe Haltung, welche
die Eidgenoſſen gegenüber den Flüchtlingen gezeigt hatten. Sie nahmen
kurzweg an, daß der ſchweizeriſche Radicalismus, der in ſeinem Kerne
ganz national war und alles ausländiſche Weſen faſt unduldſam abwies,
mit den Umſturzparteien des geſammten Welttheils zuſammen arbeitete.
Ueberdies ſtanden die alten Herrengeſchlechter der Schweiz, deren große
Zeit jetzt zu Ende ging, alleſammt mit den großen Höfen in perſönlicher
Verbindung. Die katholiſchen Conſervativen unterhielten durch Haller,
Hurter, Bernhard Meyer und andere fanatiſche Ultramontane vertrauten
Verkehr mit Metternich; die Genfer Patricier waren Guizot’s und Broglie’s
alte Freunde, die Neuenburger Ariſtokraten das getreue Lehensvolk der
Krone Preußen. Schon der Name der Radicalen, der in der Schweiz
doch etwas ganz anderes bedeutete als in den benachbarten Monarchien,
ſchreckte die Diplomaten ab; die fremden Geſandten verkehrten ausſchließlich
mit ſchweizeriſchen Conſervativen, weil ihnen der Wirthshauston der radicalen
Geſellſchaft nicht zuſagte, und erſtatteten ihren Höfen ſtets parteiiſch ge-
färbte Berichte. Was die Höfe von Paris und Wien ſo gehäſſig gegen
die Schweizer ſtimmte, war doch vornehmlich die Angſt vor Deutſchlands
Erſtarken. Metternich zitterte bei dem Gedanken, daß die deutſchen
Patrioten ſich an den ſchweizeriſchen Radicalen ein Beiſpiel nehmen könnten;
Guizot ſprach mit Entſetzen von „dem Großſtaats-Ehrgeiz“ der Schweizer,
von der Möglichkeit einer furchtbaren helvetiſchen Einheitsrepublik, gleich
als ob Frankreich vor der Schweiz zittern müßte; und König Friedrich

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[726/0740] V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution. dieſes claſſiſchen Landes föderativer Staatsbildung eine hiſtoriſche Noth- wendigkeit: die Natur der Dinge drängte dahin, daß die Schweiz jede Verbindung mit dem Auslande auflöſte und den alten Unterſchied von Stadt und Land, von Herrenlanden und Unterthanenlanden beſeitigte. Dies zweifache Ziel war im Jahre 1815 nahezu erreicht: die Eidgenoſſen- ſchaft beſtand nur noch aus zweiundzwanzig gleichberechtigten Cantonen. Nunmehr begann eine ebenſo nothwendige demokratiſche Bewegung; die tüch- tigen, um die alte Schweiz ſo hochverdienten Patriciergeſchlechter vermochten nur noch in Baſel, in Neuenburg und wenigen anderen Cantonen ihre geiſtige und wirthſchaftliche Ueberlegenheit zu behaupten, der Mittelſtand drängte ſich überall kräftig empor. Seit der Juli-Revolution ließ ſich ſchon deutlich erkennen, daß die Schweiz der repräſentativen Demokratie zuſtrebte; der ariſtokratiſche Kleine Rath verlor faſt allerorten an Anſehen, die Canto- nalgewalt gerieth mehr und mehr in die Hände der Volksvertretung, des demokratiſchen Großen Rathes. Die aufſtrebende Demokratie verlangte zugleich eine ſtärkere Bundesgewalt, wie ſie ſchon einmal, unter der na- poleoniſchen Mediationsacte, zum Heile des Landes beſtanden hatte. Aber dieſe, im Weſentlichen nothwendige Veränderung des ſchweizeriſchen Lebens betrachteten die großen Mächte von vornherein ungerecht, mit legitimiſtiſcher Verblendung. Sie waren ſämmtlich, nicht mit Unrecht, erbittert über die unzuverläſſige, bald harte, bald ſchlaffe Haltung, welche die Eidgenoſſen gegenüber den Flüchtlingen gezeigt hatten. Sie nahmen kurzweg an, daß der ſchweizeriſche Radicalismus, der in ſeinem Kerne ganz national war und alles ausländiſche Weſen faſt unduldſam abwies, mit den Umſturzparteien des geſammten Welttheils zuſammen arbeitete. Ueberdies ſtanden die alten Herrengeſchlechter der Schweiz, deren große Zeit jetzt zu Ende ging, alleſammt mit den großen Höfen in perſönlicher Verbindung. Die katholiſchen Conſervativen unterhielten durch Haller, Hurter, Bernhard Meyer und andere fanatiſche Ultramontane vertrauten Verkehr mit Metternich; die Genfer Patricier waren Guizot’s und Broglie’s alte Freunde, die Neuenburger Ariſtokraten das getreue Lehensvolk der Krone Preußen. Schon der Name der Radicalen, der in der Schweiz doch etwas ganz anderes bedeutete als in den benachbarten Monarchien, ſchreckte die Diplomaten ab; die fremden Geſandten verkehrten ausſchließlich mit ſchweizeriſchen Conſervativen, weil ihnen der Wirthshauston der radicalen Geſellſchaft nicht zuſagte, und erſtatteten ihren Höfen ſtets parteiiſch ge- färbte Berichte. Was die Höfe von Paris und Wien ſo gehäſſig gegen die Schweizer ſtimmte, war doch vornehmlich die Angſt vor Deutſchlands Erſtarken. Metternich zitterte bei dem Gedanken, daß die deutſchen Patrioten ſich an den ſchweizeriſchen Radicalen ein Beiſpiel nehmen könnten; Guizot ſprach mit Entſetzen von „dem Großſtaats-Ehrgeiz“ der Schweizer, von der Möglichkeit einer furchtbaren helvetiſchen Einheitsrepublik, gleich als ob Frankreich vor der Schweiz zittern müßte; und König Friedrich

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 726. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/740>, abgerufen am 22.11.2024.