Zehnter Abschnitt. Vorboten der europäischen Revolution.
Wenn eine vermorschte politische Gewalt dem Untergange entgegen- reift, dann wird sie durch ein gerechtes Schicksal immer gezwungen, am Rande des Grabes ihre sittlichen Gebrechen noch einmal handgreiflich, sinnenfällig vor aller Welt zu offenbaren. Schwer hatte Europa seit den Länderverkäufen des napoleonischen Zeitalters und des Wiener Congresses unter der Willkür dynastischer Politik gelitten, so schwer, daß die republi- kanischen Parteien, trotz der uralten monarchischen Ueberlieferungen unseres Welttheils, einiges Recht gewannen. Nun sollte sich, kurz bevor das alte System stürzte noch einmal zeigen, welcher Nichtswürdigkeiten die dyna- stische Staatskunst fähig war, und dies ekelhafte Schauspiel wurde auf- geführt von den beiden Fürstengeschlechtern, die sich selber für besonders freisinnig und volksfreundlich erklärten, von den Häusern Coburg und Orleans. Zufrieden in dem Wahne, daß die wachsende Verstandesbildung jeden Fortschritt der Menschheit in sich schließe, wähnte die neue Zeit allen früheren Jahrhunderten auch sittlich überlegen zu sein. Die Histo- riker redeten von jenem berüchtigten cynischen Briefwechsel, welchen einst Ferdinand der Katholische und der Tudor Heinrich VII. wegen der Ver- heirathung ihrer Kinder geführt hatten, mit einer Verwunderung, als wäre eine solche hochfürstliche Gaunerei nur unter den Zeitgenossen Machiavelli's möglich gewesen. Jetzt mußten sie lernen, daß die Civilisation wohl die Sitten verfeinert, aber an der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur gar nichts ändert; sie mußten zugestehen, daß jene beiden gewaltigen alten Tyrannen neben den modernen constitutionellen Höfen von London, Paris und Madrid nur wie zwei unschuldige, kreiselspielende Knaben erschienen.
Die Tage waren dahin, da die Welt sich an der glorreichen Qua- drupelallianz der freien Völker des Westens erbaut hatte. Jetzt da das unglückliche Spanien vom Bürgerkriege zerfleischt darnieder lag, begann man überall zu fühlen, daß die muthwillige Zerstörung der monarchischen Thronfolge ein Verbrechen ist, weil sie den Grund alles Rechts vernichtet; und die Frage, wie das zerrüttete Land wieder eine gesicherte Dynastie
Zehnter Abſchnitt. Vorboten der europäiſchen Revolution.
Wenn eine vermorſchte politiſche Gewalt dem Untergange entgegen- reift, dann wird ſie durch ein gerechtes Schickſal immer gezwungen, am Rande des Grabes ihre ſittlichen Gebrechen noch einmal handgreiflich, ſinnenfällig vor aller Welt zu offenbaren. Schwer hatte Europa ſeit den Länderverkäufen des napoleoniſchen Zeitalters und des Wiener Congreſſes unter der Willkür dynaſtiſcher Politik gelitten, ſo ſchwer, daß die republi- kaniſchen Parteien, trotz der uralten monarchiſchen Ueberlieferungen unſeres Welttheils, einiges Recht gewannen. Nun ſollte ſich, kurz bevor das alte Syſtem ſtürzte noch einmal zeigen, welcher Nichtswürdigkeiten die dyna- ſtiſche Staatskunſt fähig war, und dies ekelhafte Schauſpiel wurde auf- geführt von den beiden Fürſtengeſchlechtern, die ſich ſelber für beſonders freiſinnig und volksfreundlich erklärten, von den Häuſern Coburg und Orleans. Zufrieden in dem Wahne, daß die wachſende Verſtandesbildung jeden Fortſchritt der Menſchheit in ſich ſchließe, wähnte die neue Zeit allen früheren Jahrhunderten auch ſittlich überlegen zu ſein. Die Hiſto- riker redeten von jenem berüchtigten cyniſchen Briefwechſel, welchen einſt Ferdinand der Katholiſche und der Tudor Heinrich VII. wegen der Ver- heirathung ihrer Kinder geführt hatten, mit einer Verwunderung, als wäre eine ſolche hochfürſtliche Gaunerei nur unter den Zeitgenoſſen Machiavelli’s möglich geweſen. Jetzt mußten ſie lernen, daß die Civiliſation wohl die Sitten verfeinert, aber an der Sündhaftigkeit der menſchlichen Natur gar nichts ändert; ſie mußten zugeſtehen, daß jene beiden gewaltigen alten Tyrannen neben den modernen conſtitutionellen Höfen von London, Paris und Madrid nur wie zwei unſchuldige, kreiſelſpielende Knaben erſchienen.
Die Tage waren dahin, da die Welt ſich an der glorreichen Qua- drupelallianz der freien Völker des Weſtens erbaut hatte. Jetzt da das unglückliche Spanien vom Bürgerkriege zerfleiſcht darnieder lag, begann man überall zu fühlen, daß die muthwillige Zerſtörung der monarchiſchen Thronfolge ein Verbrechen iſt, weil ſie den Grund alles Rechts vernichtet; und die Frage, wie das zerrüttete Land wieder eine geſicherte Dynaſtie
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0716"n="[702]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Zehnter Abſchnitt.<lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/> Vorboten der europäiſchen Revolution.</hi></head><lb/><p>Wenn eine vermorſchte politiſche Gewalt dem Untergange entgegen-<lb/>
reift, dann wird ſie durch ein gerechtes Schickſal immer gezwungen, am<lb/>
Rande des Grabes ihre ſittlichen Gebrechen noch einmal handgreiflich,<lb/>ſinnenfällig vor aller Welt zu offenbaren. Schwer hatte Europa ſeit den<lb/>
Länderverkäufen des napoleoniſchen Zeitalters und des Wiener Congreſſes<lb/>
unter der Willkür dynaſtiſcher Politik gelitten, ſo ſchwer, daß die republi-<lb/>
kaniſchen Parteien, trotz der uralten monarchiſchen Ueberlieferungen unſeres<lb/>
Welttheils, einiges Recht gewannen. Nun ſollte ſich, kurz bevor das alte<lb/>
Syſtem ſtürzte noch einmal zeigen, welcher Nichtswürdigkeiten die dyna-<lb/>ſtiſche Staatskunſt fähig war, und dies ekelhafte Schauſpiel wurde auf-<lb/>
geführt von den beiden Fürſtengeſchlechtern, die ſich ſelber für beſonders<lb/>
freiſinnig und volksfreundlich erklärten, von den Häuſern Coburg und<lb/>
Orleans. Zufrieden in dem Wahne, daß die wachſende Verſtandesbildung<lb/>
jeden Fortſchritt der Menſchheit in ſich ſchließe, wähnte die neue Zeit<lb/>
allen früheren Jahrhunderten auch ſittlich überlegen zu ſein. Die Hiſto-<lb/>
riker redeten von jenem berüchtigten cyniſchen Briefwechſel, welchen einſt<lb/>
Ferdinand der Katholiſche und der Tudor Heinrich <hirendition="#aq">VII.</hi> wegen der Ver-<lb/>
heirathung ihrer Kinder geführt hatten, mit einer Verwunderung, als wäre<lb/>
eine ſolche hochfürſtliche Gaunerei nur unter den Zeitgenoſſen Machiavelli’s<lb/>
möglich geweſen. Jetzt mußten ſie lernen, daß die Civiliſation wohl die<lb/>
Sitten verfeinert, aber an der Sündhaftigkeit der menſchlichen Natur gar<lb/>
nichts ändert; ſie mußten zugeſtehen, daß jene beiden gewaltigen alten<lb/>
Tyrannen neben den modernen conſtitutionellen Höfen von London, Paris<lb/>
und Madrid nur wie zwei unſchuldige, kreiſelſpielende Knaben erſchienen.</p><lb/><p>Die Tage waren dahin, da die Welt ſich an der glorreichen Qua-<lb/>
drupelallianz der freien Völker des Weſtens erbaut hatte. Jetzt da das<lb/>
unglückliche Spanien vom Bürgerkriege zerfleiſcht darnieder lag, begann<lb/>
man überall zu fühlen, daß die muthwillige Zerſtörung der monarchiſchen<lb/>
Thronfolge ein Verbrechen iſt, weil ſie den Grund alles Rechts vernichtet;<lb/>
und die Frage, wie das zerrüttete Land wieder eine geſicherte Dynaſtie<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[702]/0716]
Zehnter Abſchnitt.
Vorboten der europäiſchen Revolution.
Wenn eine vermorſchte politiſche Gewalt dem Untergange entgegen-
reift, dann wird ſie durch ein gerechtes Schickſal immer gezwungen, am
Rande des Grabes ihre ſittlichen Gebrechen noch einmal handgreiflich,
ſinnenfällig vor aller Welt zu offenbaren. Schwer hatte Europa ſeit den
Länderverkäufen des napoleoniſchen Zeitalters und des Wiener Congreſſes
unter der Willkür dynaſtiſcher Politik gelitten, ſo ſchwer, daß die republi-
kaniſchen Parteien, trotz der uralten monarchiſchen Ueberlieferungen unſeres
Welttheils, einiges Recht gewannen. Nun ſollte ſich, kurz bevor das alte
Syſtem ſtürzte noch einmal zeigen, welcher Nichtswürdigkeiten die dyna-
ſtiſche Staatskunſt fähig war, und dies ekelhafte Schauſpiel wurde auf-
geführt von den beiden Fürſtengeſchlechtern, die ſich ſelber für beſonders
freiſinnig und volksfreundlich erklärten, von den Häuſern Coburg und
Orleans. Zufrieden in dem Wahne, daß die wachſende Verſtandesbildung
jeden Fortſchritt der Menſchheit in ſich ſchließe, wähnte die neue Zeit
allen früheren Jahrhunderten auch ſittlich überlegen zu ſein. Die Hiſto-
riker redeten von jenem berüchtigten cyniſchen Briefwechſel, welchen einſt
Ferdinand der Katholiſche und der Tudor Heinrich VII. wegen der Ver-
heirathung ihrer Kinder geführt hatten, mit einer Verwunderung, als wäre
eine ſolche hochfürſtliche Gaunerei nur unter den Zeitgenoſſen Machiavelli’s
möglich geweſen. Jetzt mußten ſie lernen, daß die Civiliſation wohl die
Sitten verfeinert, aber an der Sündhaftigkeit der menſchlichen Natur gar
nichts ändert; ſie mußten zugeſtehen, daß jene beiden gewaltigen alten
Tyrannen neben den modernen conſtitutionellen Höfen von London, Paris
und Madrid nur wie zwei unſchuldige, kreiſelſpielende Knaben erſchienen.
Die Tage waren dahin, da die Welt ſich an der glorreichen Qua-
drupelallianz der freien Völker des Weſtens erbaut hatte. Jetzt da das
unglückliche Spanien vom Bürgerkriege zerfleiſcht darnieder lag, begann
man überall zu fühlen, daß die muthwillige Zerſtörung der monarchiſchen
Thronfolge ein Verbrechen iſt, weil ſie den Grund alles Rechts vernichtet;
und die Frage, wie das zerrüttete Land wieder eine geſicherte Dynaſtie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. [702]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/716>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.