ihre nüchternen Geschäftsbedenken, einige auch ihre Furcht nicht überwinden konnten, General Gerlach aber alle "Germanomanie" bekämpfte. In einer großen Denkschrift vom 20. Nov. stellte Radowitz die Gedanken seines könig- lichen Herrn zusammen. Sie verurtheilte in scharfen Worten das bis- herige Bundessystem. Da hieß es rundweg: "Auf die Frage: was hat der Bund seit den 32 Jahren seines Bestehens, während eines bespiellosen Friedens gethan für Deutschlands Kräftigung und Förderung? -- ist keine Antwort möglich. Die gewaltigste Kraft der Gegenwart, die Natio- nalität ist die gefährlichste Waffe in den Händen der Feinde der öffent- lichen Ordnung geworden." Darum verlangte Preußen Kräftigung der Bundesgewalt nach drei Seiten hin. Zum ersten Sicherung der Wehr- haftigkeit des Bundes durch Inspectionen, gemeinsame Uebungen, Verein- barung über die Reglements, das Kaliber u. s. w. -- aber ohne Umsturz der bestehenden Heeresverfassung. Zum Zweiten gesicherten Rechtsschutz, also ein Bundesgericht für staatsrechtliche Streitigkeiten, Einheit des Straf- rechts, des Handelsrechts, des Heimathsrechts mit voller Freizügigkeit. Zum Dritten Förderung der materiellen Interessen durch Einheit der Münzen und Maße, durch eine Post- und Eisenbahn-Ordnung, durch Bundesconsulate, endlich durch "Ausdehnung des Zollvereins auf den Bund".
Hochsinnig, gedankenreich, formvollendet wie Alles was aus Rado- witz's Feder floß, litt die Denkschrift doch an der traumhaften Unklarheit, welche die ganze Nation, mit sehr vereinzelten Ausnahmen, noch befangen hielt; sie lief doch hinaus auf die unmögliche Hoffnung, daß ein Bund von souveränen Staaten, zu denen drei undeutsche Mächte gehörten, die Macht einer nationalen Staatsgewalt ausüben sollte. Und konnte der König, der bisher der Hofburg jede Einmischung in seine Zollpolitik stand- haft verweigert hatte, jetzt im Ernst beabsichtigen, das größte Werk seines Vaters zu zerstören und den Zollverein, wie Metternich längst wünschte, dem Bundestage unterzuordnen? Und dies in einem Augenblicke, da die Hofburg sich soeben anschickte die alten Zollschranken zwischen Ungarn und den deutsch-böhmischen Kronländern aufzuheben und mithin unzweideutig bekundete, daß Oesterreich selbst dem Zollvereine nicht beitreten wollte? Friedrich Wilhelm ahnte auch dunkel, in welche Widersprüche er sich ver- wickelte. Darum ließ er in der Radowitz'schen Denkschrift aussprechen, daß er zunächst eine Verständigung mit dem Wiener Hofe versuchen, und wenn sie gelänge, die genauere Verabredung über die geplanten Reformen ent- weder einem Fürstencongresse oder dem Bundestage unter Oesterreichs Füh- rung überlassen wollte. Käme er in Wien nicht zum Ziele, dann dachte er sich, schweren Herzens freilich, allein an den Bundestag zu wenden. Miß- länge auch dieser Versuch, dann sollte Preußen "den Geist der Nation" anrufen, die öffentliche Meinung über seine nationalen Pläne aufklären und mit den gleichgesinnten Bundesstaaten gemeinnützige Sonderverträge,
Wechſelrecht. Radowitz’s Reformdenkſchrift.
ihre nüchternen Geſchäftsbedenken, einige auch ihre Furcht nicht überwinden konnten, General Gerlach aber alle „Germanomanie“ bekämpfte. In einer großen Denkſchrift vom 20. Nov. ſtellte Radowitz die Gedanken ſeines könig- lichen Herrn zuſammen. Sie verurtheilte in ſcharfen Worten das bis- herige Bundesſyſtem. Da hieß es rundweg: „Auf die Frage: was hat der Bund ſeit den 32 Jahren ſeines Beſtehens, während eines beſpielloſen Friedens gethan für Deutſchlands Kräftigung und Förderung? — iſt keine Antwort möglich. Die gewaltigſte Kraft der Gegenwart, die Natio- nalität iſt die gefährlichſte Waffe in den Händen der Feinde der öffent- lichen Ordnung geworden.“ Darum verlangte Preußen Kräftigung der Bundesgewalt nach drei Seiten hin. Zum erſten Sicherung der Wehr- haftigkeit des Bundes durch Inſpectionen, gemeinſame Uebungen, Verein- barung über die Reglements, das Kaliber u. ſ. w. — aber ohne Umſturz der beſtehenden Heeresverfaſſung. Zum Zweiten geſicherten Rechtsſchutz, alſo ein Bundesgericht für ſtaatsrechtliche Streitigkeiten, Einheit des Straf- rechts, des Handelsrechts, des Heimathsrechts mit voller Freizügigkeit. Zum Dritten Förderung der materiellen Intereſſen durch Einheit der Münzen und Maße, durch eine Poſt- und Eiſenbahn-Ordnung, durch Bundesconſulate, endlich durch „Ausdehnung des Zollvereins auf den Bund“.
Hochſinnig, gedankenreich, formvollendet wie Alles was aus Rado- witz’s Feder floß, litt die Denkſchrift doch an der traumhaften Unklarheit, welche die ganze Nation, mit ſehr vereinzelten Ausnahmen, noch befangen hielt; ſie lief doch hinaus auf die unmögliche Hoffnung, daß ein Bund von ſouveränen Staaten, zu denen drei undeutſche Mächte gehörten, die Macht einer nationalen Staatsgewalt ausüben ſollte. Und konnte der König, der bisher der Hofburg jede Einmiſchung in ſeine Zollpolitik ſtand- haft verweigert hatte, jetzt im Ernſt beabſichtigen, das größte Werk ſeines Vaters zu zerſtören und den Zollverein, wie Metternich längſt wünſchte, dem Bundestage unterzuordnen? Und dies in einem Augenblicke, da die Hofburg ſich ſoeben anſchickte die alten Zollſchranken zwiſchen Ungarn und den deutſch-böhmiſchen Kronländern aufzuheben und mithin unzweideutig bekundete, daß Oeſterreich ſelbſt dem Zollvereine nicht beitreten wollte? Friedrich Wilhelm ahnte auch dunkel, in welche Widerſprüche er ſich ver- wickelte. Darum ließ er in der Radowitz’ſchen Denkſchrift ausſprechen, daß er zunächſt eine Verſtändigung mit dem Wiener Hofe verſuchen, und wenn ſie gelänge, die genauere Verabredung über die geplanten Reformen ent- weder einem Fürſtencongreſſe oder dem Bundestage unter Oeſterreichs Füh- rung überlaſſen wollte. Käme er in Wien nicht zum Ziele, dann dachte er ſich, ſchweren Herzens freilich, allein an den Bundestag zu wenden. Miß- länge auch dieſer Verſuch, dann ſollte Preußen „den Geiſt der Nation“ anrufen, die öffentliche Meinung über ſeine nationalen Pläne aufklären und mit den gleichgeſinnten Bundesſtaaten gemeinnützige Sonderverträge,
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ihre nüchternen Geſchäftsbedenken, einige auch ihre Furcht nicht überwinden
konnten, General Gerlach aber alle „Germanomanie“ bekämpfte. In einer
großen Denkſchrift vom 20. Nov. ſtellte Radowitz die Gedanken ſeines könig-
lichen Herrn zuſammen. Sie verurtheilte in ſcharfen Worten das bis-
herige Bundesſyſtem. Da hieß es rundweg: „Auf die Frage: was hat
der Bund ſeit den 32 Jahren ſeines Beſtehens, während eines beſpielloſen
Friedens gethan für Deutſchlands Kräftigung und Förderung? — iſt
keine Antwort möglich. Die gewaltigſte Kraft der Gegenwart, die Natio-
nalität iſt die gefährlichſte Waffe in den Händen der Feinde der öffent-
lichen Ordnung geworden.“ Darum verlangte Preußen Kräftigung der
Bundesgewalt nach drei Seiten hin. Zum erſten Sicherung der Wehr-
haftigkeit des Bundes durch Inſpectionen, gemeinſame Uebungen, Verein-
barung über die Reglements, das Kaliber u. ſ. w. — aber ohne Umſturz
der beſtehenden Heeresverfaſſung. Zum Zweiten geſicherten Rechtsſchutz,
alſo ein Bundesgericht für ſtaatsrechtliche Streitigkeiten, Einheit des Straf-
rechts, des Handelsrechts, des Heimathsrechts mit voller Freizügigkeit.
Zum Dritten Förderung der materiellen Intereſſen durch Einheit der
Münzen und Maße, durch eine Poſt- und Eiſenbahn-Ordnung, durch
Bundesconſulate, endlich durch „Ausdehnung des Zollvereins auf den
Bund“.
Hochſinnig, gedankenreich, formvollendet wie Alles was aus Rado-
witz’s Feder floß, litt die Denkſchrift doch an der traumhaften Unklarheit,
welche die ganze Nation, mit ſehr vereinzelten Ausnahmen, noch befangen
hielt; ſie lief doch hinaus auf die unmögliche Hoffnung, daß ein Bund
von ſouveränen Staaten, zu denen drei undeutſche Mächte gehörten, die
Macht einer nationalen Staatsgewalt ausüben ſollte. Und konnte der
König, der bisher der Hofburg jede Einmiſchung in ſeine Zollpolitik ſtand-
haft verweigert hatte, jetzt im Ernſt beabſichtigen, das größte Werk ſeines
Vaters zu zerſtören und den Zollverein, wie Metternich längſt wünſchte,
dem Bundestage unterzuordnen? Und dies in einem Augenblicke, da die
Hofburg ſich ſoeben anſchickte die alten Zollſchranken zwiſchen Ungarn und
den deutſch-böhmiſchen Kronländern aufzuheben und mithin unzweideutig
bekundete, daß Oeſterreich ſelbſt dem Zollvereine nicht beitreten wollte?
Friedrich Wilhelm ahnte auch dunkel, in welche Widerſprüche er ſich ver-
wickelte. Darum ließ er in der Radowitz’ſchen Denkſchrift ausſprechen, daß
er zunächſt eine Verſtändigung mit dem Wiener Hofe verſuchen, und wenn
ſie gelänge, die genauere Verabredung über die geplanten Reformen ent-
weder einem Fürſtencongreſſe oder dem Bundestage unter Oeſterreichs Füh-
rung überlaſſen wollte. Käme er in Wien nicht zum Ziele, dann dachte er
ſich, ſchweren Herzens freilich, allein an den Bundestag zu wenden. Miß-
länge auch dieſer Verſuch, dann ſollte Preußen „den Geiſt der Nation“
anrufen, die öffentliche Meinung über ſeine nationalen Pläne aufklären
und mit den gleichgeſinnten Bundesſtaaten gemeinnützige Sonderverträge,
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 699. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/713>, abgerufen am 23.07.2024.
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