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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Germanistentage. Heppenheimer Versammlung.
durch den welfischen Staatsstreich und den schleswigholsteinischen Streit
wieder ein hohes politisches Ansehen errungen hatte und nunmehr in
gründlicher wissenschaftlicher Erörterung die großen politischen Lebensfragen
der Nation besprach. Eine andere Bühne stand den Deutschen noch nicht
offen, und es war nur der Lauf der Welt, daß die Männer dieses geistigen
Landtags nachher in allzu großer Zahl für das wirkliche Parlament ge-
wählt wurden. In Frankfurt ward die schleswigholsteinische Frage von
Dahlmann, Waitz, Droysen so ernst und umsichtig beleuchtet, daß seitdem ein
Zweifel an dem guten Rechte unserer Nordmark kaum noch möglich schien.
In Lübeck sodann gelangte der alte Streit um die Neugestaltung des
Strafverfahrens zu einem vorläufigen theoretischen Abschluß; auch Georg
Beseler, der kürzlich in seiner Schrift "Volksrecht und Juristenrecht" die
Ruheseligkeit der historischen Schule bekämpft und das altdeutsche Schöffen-
gericht vertheidigt hatte, bekehrte sich jetzt zu der sehr bestreitbaren, aber
von der Mehrzahl gebilligten Ansicht Dahlmann's: das Schwurgericht sei
das gediegenste politische Bildungsmittel für das Volk. So stimmten die Ge-
lehrten mit den volksthümlichen Wünschen überein. Es waren doch glück-
liche Tage; eine schwärmerische, hoffnungsfrohe Begeisterung verjüngte auch
die Alten. Uhland meinte, die alten Kaiser sprängen leibhaftig aus ihren
Rahmen heraus, als er im alten Römersaale die vaterländische Bered-
samkeit der Tagenden anhörte; und im Lübecker Rathhause fiel der greise
Jakob Grimm dem Freunde Dahlmann überwältigt in die Arme mit dem
Ausruf: er habe nie etwas so sehr geliebt wie sein Vaterland. Nur zu
bald sollte die Zeit mit ehernen Sohlen über solche unschuldige Gefühle
hinwegschreiten. Die Gelehrten empfanden das selbst; sie verabredeten
mit einander ein gemeinsames Werk über die neueste deutsche Geschichte,
ein Unternehmen, das bestimmt war, der Nation das Bewußtsein ihrer
jüngsten Entwicklung zu erwecken, ihr die Einsicht zu schärfen für kommende
Thaten. Auch dieser Plan ward nachher durch die Revolution vereitelt;
nur einige Bruchstücke, das Leben Stein's von Pertz und Wippermann's
kurhessische Geschichte, kamen zu Stande.

Solche Versammlungen konnten nur vorbereiten; unmittelbar der
Politik des Tages galten aber die vertraulichen Berathungen, welche alle
diese Jahre hindurch zwischen den liberalen Abgeordneten Westdeutschlands
gehalten wurden. Die Rathlosigkeit und die Zwietracht der Kronen
zwangen die Nation, den Anstoß zu einer Bundesreform nur noch von
unten her zu erwarten. Im October 1847 versammelten sich zu Heppen-
heim mehrere der angesehensten Liberalen des Westens: Mathy, Basser-
mann, Soiron aus Baden, Römer aus Württemberg, Hergenhahn aus
Nassau, Heinrich v. Gagern aus Hessen, Hansemann und Mevissen aus
dem preußischen Rheinlande; auch der alte Itzstein war erschienen, doch
merkte er bald, daß seine Stimme unter diesen gemäßigten Liberalen nichts
mehr galt. Hier wurde nun der Gedanke des deutschen Parlaments, der

Germaniſtentage. Heppenheimer Verſammlung.
durch den welfiſchen Staatsſtreich und den ſchleswigholſteiniſchen Streit
wieder ein hohes politiſches Anſehen errungen hatte und nunmehr in
gründlicher wiſſenſchaftlicher Erörterung die großen politiſchen Lebensfragen
der Nation beſprach. Eine andere Bühne ſtand den Deutſchen noch nicht
offen, und es war nur der Lauf der Welt, daß die Männer dieſes geiſtigen
Landtags nachher in allzu großer Zahl für das wirkliche Parlament ge-
wählt wurden. In Frankfurt ward die ſchleswigholſteiniſche Frage von
Dahlmann, Waitz, Droyſen ſo ernſt und umſichtig beleuchtet, daß ſeitdem ein
Zweifel an dem guten Rechte unſerer Nordmark kaum noch möglich ſchien.
In Lübeck ſodann gelangte der alte Streit um die Neugeſtaltung des
Strafverfahrens zu einem vorläufigen theoretiſchen Abſchluß; auch Georg
Beſeler, der kürzlich in ſeiner Schrift „Volksrecht und Juriſtenrecht“ die
Ruheſeligkeit der hiſtoriſchen Schule bekämpft und das altdeutſche Schöffen-
gericht vertheidigt hatte, bekehrte ſich jetzt zu der ſehr beſtreitbaren, aber
von der Mehrzahl gebilligten Anſicht Dahlmann’s: das Schwurgericht ſei
das gediegenſte politiſche Bildungsmittel für das Volk. So ſtimmten die Ge-
lehrten mit den volksthümlichen Wünſchen überein. Es waren doch glück-
liche Tage; eine ſchwärmeriſche, hoffnungsfrohe Begeiſterung verjüngte auch
die Alten. Uhland meinte, die alten Kaiſer ſprängen leibhaftig aus ihren
Rahmen heraus, als er im alten Römerſaale die vaterländiſche Bered-
ſamkeit der Tagenden anhörte; und im Lübecker Rathhauſe fiel der greiſe
Jakob Grimm dem Freunde Dahlmann überwältigt in die Arme mit dem
Ausruf: er habe nie etwas ſo ſehr geliebt wie ſein Vaterland. Nur zu
bald ſollte die Zeit mit ehernen Sohlen über ſolche unſchuldige Gefühle
hinwegſchreiten. Die Gelehrten empfanden das ſelbſt; ſie verabredeten
mit einander ein gemeinſames Werk über die neueſte deutſche Geſchichte,
ein Unternehmen, das beſtimmt war, der Nation das Bewußtſein ihrer
jüngſten Entwicklung zu erwecken, ihr die Einſicht zu ſchärfen für kommende
Thaten. Auch dieſer Plan ward nachher durch die Revolution vereitelt;
nur einige Bruchſtücke, das Leben Stein’s von Pertz und Wippermann’s
kurheſſiſche Geſchichte, kamen zu Stande.

Solche Verſammlungen konnten nur vorbereiten; unmittelbar der
Politik des Tages galten aber die vertraulichen Berathungen, welche alle
dieſe Jahre hindurch zwiſchen den liberalen Abgeordneten Weſtdeutſchlands
gehalten wurden. Die Rathloſigkeit und die Zwietracht der Kronen
zwangen die Nation, den Anſtoß zu einer Bundesreform nur noch von
unten her zu erwarten. Im October 1847 verſammelten ſich zu Heppen-
heim mehrere der angeſehenſten Liberalen des Weſtens: Mathy, Baſſer-
mann, Soiron aus Baden, Römer aus Württemberg, Hergenhahn aus
Naſſau, Heinrich v. Gagern aus Heſſen, Hanſemann und Meviſſen aus
dem preußiſchen Rheinlande; auch der alte Itzſtein war erſchienen, doch
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[687/0701] Germaniſtentage. Heppenheimer Verſammlung. durch den welfiſchen Staatsſtreich und den ſchleswigholſteiniſchen Streit wieder ein hohes politiſches Anſehen errungen hatte und nunmehr in gründlicher wiſſenſchaftlicher Erörterung die großen politiſchen Lebensfragen der Nation beſprach. Eine andere Bühne ſtand den Deutſchen noch nicht offen, und es war nur der Lauf der Welt, daß die Männer dieſes geiſtigen Landtags nachher in allzu großer Zahl für das wirkliche Parlament ge- wählt wurden. In Frankfurt ward die ſchleswigholſteiniſche Frage von Dahlmann, Waitz, Droyſen ſo ernſt und umſichtig beleuchtet, daß ſeitdem ein Zweifel an dem guten Rechte unſerer Nordmark kaum noch möglich ſchien. In Lübeck ſodann gelangte der alte Streit um die Neugeſtaltung des Strafverfahrens zu einem vorläufigen theoretiſchen Abſchluß; auch Georg Beſeler, der kürzlich in ſeiner Schrift „Volksrecht und Juriſtenrecht“ die Ruheſeligkeit der hiſtoriſchen Schule bekämpft und das altdeutſche Schöffen- gericht vertheidigt hatte, bekehrte ſich jetzt zu der ſehr beſtreitbaren, aber von der Mehrzahl gebilligten Anſicht Dahlmann’s: das Schwurgericht ſei das gediegenſte politiſche Bildungsmittel für das Volk. So ſtimmten die Ge- lehrten mit den volksthümlichen Wünſchen überein. Es waren doch glück- liche Tage; eine ſchwärmeriſche, hoffnungsfrohe Begeiſterung verjüngte auch die Alten. Uhland meinte, die alten Kaiſer ſprängen leibhaftig aus ihren Rahmen heraus, als er im alten Römerſaale die vaterländiſche Bered- ſamkeit der Tagenden anhörte; und im Lübecker Rathhauſe fiel der greiſe Jakob Grimm dem Freunde Dahlmann überwältigt in die Arme mit dem Ausruf: er habe nie etwas ſo ſehr geliebt wie ſein Vaterland. Nur zu bald ſollte die Zeit mit ehernen Sohlen über ſolche unſchuldige Gefühle hinwegſchreiten. Die Gelehrten empfanden das ſelbſt; ſie verabredeten mit einander ein gemeinſames Werk über die neueſte deutſche Geſchichte, ein Unternehmen, das beſtimmt war, der Nation das Bewußtſein ihrer jüngſten Entwicklung zu erwecken, ihr die Einſicht zu ſchärfen für kommende Thaten. Auch dieſer Plan ward nachher durch die Revolution vereitelt; nur einige Bruchſtücke, das Leben Stein’s von Pertz und Wippermann’s kurheſſiſche Geſchichte, kamen zu Stande. Solche Verſammlungen konnten nur vorbereiten; unmittelbar der Politik des Tages galten aber die vertraulichen Berathungen, welche alle dieſe Jahre hindurch zwiſchen den liberalen Abgeordneten Weſtdeutſchlands gehalten wurden. Die Rathloſigkeit und die Zwietracht der Kronen zwangen die Nation, den Anſtoß zu einer Bundesreform nur noch von unten her zu erwarten. Im October 1847 verſammelten ſich zu Heppen- heim mehrere der angeſehenſten Liberalen des Weſtens: Mathy, Baſſer- mann, Soiron aus Baden, Römer aus Württemberg, Hergenhahn aus Naſſau, Heinrich v. Gagern aus Heſſen, Hanſemann und Meviſſen aus dem preußiſchen Rheinlande; auch der alte Itzſtein war erſchienen, doch merkte er bald, daß ſeine Stimme unter dieſen gemäßigten Liberalen nichts mehr galt. Hier wurde nun der Gedanke des deutſchen Parlaments, der

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 687. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/701>, abgerufen am 22.11.2024.