Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.Ultramontane und Liberale in Baden. als ob der höchste Gerichtshof der deutschen Nation in der KarlsruherKammer tagte. Mit demselben erhabenen Pathos, wie die großen Anliegen des deutschen Volkes, besprach man aber auch die kleinlichsten badischen Ortsbeschwerden, so die polizeiliche Abwandlung zweier Bürger, die im Wirthshause einen Polizeibeamten "scharf angeschaut und sich anzügliche Bemerkungen über seine Nase erlaubt hatten". Der wohlmeinende li- berale Minister v. Dusch erwiderte zwar auf die Warnungen des conser- vativen Nachbarn du Thil: "wir regieren mit der öffentlichen Meinung und durch sie."*) In Wahrheit hatte sich Blittersdorff's hartes bureau- kratisches Regiment auch jetzt noch kaum geändert. Der Muster-Censor Uria-Sarachaja erlaubte sich grade damals, unter dem schwachen Mini- sterium Nebenius, die frechste Willkür. Mannichfache Roheiten der Polizei- behörden reizten das Volk, zumal in Mannheim; dort war der Pöbel der Neckarvorstadt, "der Neckarschleim" ohnehin zu Unruhen geneigt, und ein- mal wurde sogar der Gemeinderath, als er einen keineswegs ungesetzlichen politischen Beschluß fassen wollte, durch die Truppen auseinandergejagt. Die Regierung schwankte zwischen halb liberalen Neigungen und polizeilicher Seelenangst; in den langen stürmischen Kammerverhandlungen kam schließ- lich nichts zu Stande als das neue Strafgesetzbuch, ein tüchtiges Werk des Staatsraths Jolly. Da stellte Zittel (Dec. 1845), angeregt durch die deutschkatholische *) du Thil's Aufzeichnungen, Wildbad, Mai 1846. **) S. o. V. 348.
Ultramontane und Liberale in Baden. als ob der höchſte Gerichtshof der deutſchen Nation in der KarlsruherKammer tagte. Mit demſelben erhabenen Pathos, wie die großen Anliegen des deutſchen Volkes, beſprach man aber auch die kleinlichſten badiſchen Ortsbeſchwerden, ſo die polizeiliche Abwandlung zweier Bürger, die im Wirthshauſe einen Polizeibeamten „ſcharf angeſchaut und ſich anzügliche Bemerkungen über ſeine Naſe erlaubt hatten“. Der wohlmeinende li- berale Miniſter v. Duſch erwiderte zwar auf die Warnungen des conſer- vativen Nachbarn du Thil: „wir regieren mit der öffentlichen Meinung und durch ſie.“*) In Wahrheit hatte ſich Blittersdorff’s hartes bureau- kratiſches Regiment auch jetzt noch kaum geändert. Der Muſter-Cenſor Uria-Sarachaja erlaubte ſich grade damals, unter dem ſchwachen Mini- ſterium Nebenius, die frechſte Willkür. Mannichfache Roheiten der Polizei- behörden reizten das Volk, zumal in Mannheim; dort war der Pöbel der Neckarvorſtadt, „der Neckarſchleim“ ohnehin zu Unruhen geneigt, und ein- mal wurde ſogar der Gemeinderath, als er einen keineswegs ungeſetzlichen politiſchen Beſchluß faſſen wollte, durch die Truppen auseinandergejagt. Die Regierung ſchwankte zwiſchen halb liberalen Neigungen und polizeilicher Seelenangſt; in den langen ſtürmiſchen Kammerverhandlungen kam ſchließ- lich nichts zu Stande als das neue Strafgeſetzbuch, ein tüchtiges Werk des Staatsraths Jolly. Da ſtellte Zittel (Dec. 1845), angeregt durch die deutſchkatholiſche *) du Thil’s Aufzeichnungen, Wildbad, Mai 1846. **) S. o. V. 348.
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Ultramontane und Liberale in Baden.
als ob der höchſte Gerichtshof der deutſchen Nation in der Karlsruher
Kammer tagte. Mit demſelben erhabenen Pathos, wie die großen Anliegen
des deutſchen Volkes, beſprach man aber auch die kleinlichſten badiſchen
Ortsbeſchwerden, ſo die polizeiliche Abwandlung zweier Bürger, die im
Wirthshauſe einen Polizeibeamten „ſcharf angeſchaut und ſich anzügliche
Bemerkungen über ſeine Naſe erlaubt hatten“. Der wohlmeinende li-
berale Miniſter v. Duſch erwiderte zwar auf die Warnungen des conſer-
vativen Nachbarn du Thil: „wir regieren mit der öffentlichen Meinung
und durch ſie.“ *) In Wahrheit hatte ſich Blittersdorff’s hartes bureau-
kratiſches Regiment auch jetzt noch kaum geändert. Der Muſter-Cenſor
Uria-Sarachaja erlaubte ſich grade damals, unter dem ſchwachen Mini-
ſterium Nebenius, die frechſte Willkür. Mannichfache Roheiten der Polizei-
behörden reizten das Volk, zumal in Mannheim; dort war der Pöbel der
Neckarvorſtadt, „der Neckarſchleim“ ohnehin zu Unruhen geneigt, und ein-
mal wurde ſogar der Gemeinderath, als er einen keineswegs ungeſetzlichen
politiſchen Beſchluß faſſen wollte, durch die Truppen auseinandergejagt. Die
Regierung ſchwankte zwiſchen halb liberalen Neigungen und polizeilicher
Seelenangſt; in den langen ſtürmiſchen Kammerverhandlungen kam ſchließ-
lich nichts zu Stande als das neue Strafgeſetzbuch, ein tüchtiges Werk
des Staatsraths Jolly.
Da ſtellte Zittel (Dec. 1845), angeregt durch die deutſchkatholiſche
Bewegung, ſeinen Antrag auf Gleichberechtigung der chriſtlichen Religions-
parteien. **) Dieſer unverfängliche Antrag, der kaum mehr verlangte als
was König Friedrich Wilhelm bald nachher den Diſſidenten gewährte, bot
nun der jungen clericalen Partei den Vorwand um ihre Kraft zu erproben
und nach bairiſcher Art eine mächtige Kundgebung des katholiſchen Volks-
zornes zu veranſtalten. Der vormals radicale Freiburger Profeſſor Buß,
der als Gelehrter gar nichts galt, aber durch ſeine freche Stirn ſchwache
Leute zu erſchrecken vermochte, leitete die pfäffiſche Wühlerarbeit im Ober-
lande. Auch Major Hennenhofer, der verrufene Günſtling des alten
Großherzogs Ludwig, tauchte wieder aus der Vergeſſenheit auf um den
Clericalen im Breisgau beizuſpringen. Die Religion iſt in Gefahr —
oder: wollt Ihr katholiſch bleiben? — ſo erklang es in zahlloſen Flug-
ſchriften und Volksverſammlungen. Die Schwarzwälder Bauern, die noch
kaum aufathmeten von den wüthenden Wahlkämpfen der Blittersdorffiſchen
Zeit, ſahen ſich plötzlich in eine wilde kirchliche Aufregung hineingehetzt;
es war als ob alle Parteien des Landes ſich verſchworen hätten, dies er-
regbare, aber gutherzige und keineswegs zuchtloſe Volk nie mehr zur Be-
ſinnung kommen zu laſſen. Auf der anderen Seite lärmten die Juden,
die Deutſchkatholiken, die werdende radicale Partei. Als der clericale
*) du Thil’s Aufzeichnungen, Wildbad, Mai 1846.
**) S. o. V. 348.
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