Begehren. Die liberale Presse lärmte, sie forderte die Freiheit wie in Kurhessen, und schon ließ sich vorhersehen, daß die Gedanken des na- poleonischen Rechts über lang oder kurz den Sieg erringen würden.
Auch die Polen verlangten von den Ständen "Erhaltung ihrer Na- tionalität und Sprache". Aber im Vereinigten Landtage zeigten dieselben Männer, die auf ihrem Provinziallandtage so oft zuchtlos getobt hatten, eine auffällige Bescheidenheit, Fürst Radziwill galt in der Herrencurie sogar für einen warmen Anhänger der Regierung. Die Mäßigung war schlau be- rechnet; denn der große Polenproceß stand grade vor der Thür, und die pol- nischen Abgeordneten fürchteten durch Kundgebung ihrer wahren Gesinnung das Schicksal ihrer angeklagten Landsleute zu erschweren. Die Liberalen erwiesen den Polen, trotz der frechen Empörung des vergangenen Jahres, eine schwächliche, sentimentale Theilnahme. Vincke sprach wieder sehr schön und wieder sehr unklug, ohne jede Sachkenntniß; er empfahl Nachgiebigkeit, damit die Polen "sich ganz deutsch und preußisch fühlten" -- woran sie doch selber gar nicht dachten. Wie tief ward diese deutsche Fremdbrüder- lichkeit beschämt, als der oberschlesische Pole Wodiczka jede Gesinnungs- gemeinschaft mit den Posener Unzufriedenen feierlich zurückwies. Die Polen, rief er aus, sehen uns nicht als polnische Brüder an; und in der That waren die schlesischen Wasserpolaken von ihren sarmatischen Nachbarn durch die Verschiedenheit der Geschichte, der Sitten, des Dialekts scharf getrennt und der Krone Preußen dankbar ergeben. "Wir Oberschlesier", so schloß Wodiczka, "wollen nur als deutsche Brüder, als Preußen angesehen und behandelt werden." Der Landtag nahm die Petition der Posener an, obgleich er sich, nach dem Patente, mit Provinzialbeschwerden nicht be- fassen durfte. Der sechsjährige gemeinsame Kampf gegen die Regierung hatte die Provinziallandtage einander genähert, der Parteigeist überwucherte den alten deutschen Markmannenstolz, die liberalen Polen zu begünstigen galt jetzt selbst in Ostpreußen schon als eine liberale Ehrenpflicht. Der König aber, der seinen Polen auch nichts übel nahm, ließ die Bittsteller gnädig bedeuten, sie sollten ihren Antrag gehörigen Orts, bei ihrem Provinzial- landtage oder unmittelbar vor dem Throne einbringen, dann könnten sie wohlwollender Prüfung sicher sein. Nachher wurde die Mehrheit durch ihre Polenschwärmerei noch zu einem höchst unziemlichen Beschlusse ver- leitet: sie bat den König schon im Voraus, gegen die gefangenen polnischen Verschwörer "nach Möglichkeit Gnade walten zu lassen", obgleich doch erst der bevorstehende Polenproceß erweisen konnte, wie schwer diese Rebellen sich gegen ihre milde Regierung vergangen hatten. Eine Besprechung ward absichtlich unterlassen, weil man die Gefühle der polnischen Abgeordneten, deren Freunde und Verwandte im Kerker saßen, zartsinnig schonen wollte.
Wie hier, so wurden auch in vielen anderen Fällen die kleinlichen Vorschriften der Geschäftsordnung übertreten. Der König stand schon längst auf der schiefen Fläche, vor der ihn Metternich so oft gewarnt hatte.
V. 8. Der Vereinigte Landtag.
Begehren. Die liberale Preſſe lärmte, ſie forderte die Freiheit wie in Kurheſſen, und ſchon ließ ſich vorherſehen, daß die Gedanken des na- poleoniſchen Rechts über lang oder kurz den Sieg erringen würden.
Auch die Polen verlangten von den Ständen „Erhaltung ihrer Na- tionalität und Sprache“. Aber im Vereinigten Landtage zeigten dieſelben Männer, die auf ihrem Provinziallandtage ſo oft zuchtlos getobt hatten, eine auffällige Beſcheidenheit, Fürſt Radziwill galt in der Herrencurie ſogar für einen warmen Anhänger der Regierung. Die Mäßigung war ſchlau be- rechnet; denn der große Polenproceß ſtand grade vor der Thür, und die pol- niſchen Abgeordneten fürchteten durch Kundgebung ihrer wahren Geſinnung das Schickſal ihrer angeklagten Landsleute zu erſchweren. Die Liberalen erwieſen den Polen, trotz der frechen Empörung des vergangenen Jahres, eine ſchwächliche, ſentimentale Theilnahme. Vincke ſprach wieder ſehr ſchön und wieder ſehr unklug, ohne jede Sachkenntniß; er empfahl Nachgiebigkeit, damit die Polen „ſich ganz deutſch und preußiſch fühlten“ — woran ſie doch ſelber gar nicht dachten. Wie tief ward dieſe deutſche Fremdbrüder- lichkeit beſchämt, als der oberſchleſiſche Pole Wodiczka jede Geſinnungs- gemeinſchaft mit den Poſener Unzufriedenen feierlich zurückwies. Die Polen, rief er aus, ſehen uns nicht als polniſche Brüder an; und in der That waren die ſchleſiſchen Waſſerpolaken von ihren ſarmatiſchen Nachbarn durch die Verſchiedenheit der Geſchichte, der Sitten, des Dialekts ſcharf getrennt und der Krone Preußen dankbar ergeben. „Wir Oberſchleſier“, ſo ſchloß Wodiczka, „wollen nur als deutſche Brüder, als Preußen angeſehen und behandelt werden.“ Der Landtag nahm die Petition der Poſener an, obgleich er ſich, nach dem Patente, mit Provinzialbeſchwerden nicht be- faſſen durfte. Der ſechsjährige gemeinſame Kampf gegen die Regierung hatte die Provinziallandtage einander genähert, der Parteigeiſt überwucherte den alten deutſchen Markmannenſtolz, die liberalen Polen zu begünſtigen galt jetzt ſelbſt in Oſtpreußen ſchon als eine liberale Ehrenpflicht. Der König aber, der ſeinen Polen auch nichts übel nahm, ließ die Bittſteller gnädig bedeuten, ſie ſollten ihren Antrag gehörigen Orts, bei ihrem Provinzial- landtage oder unmittelbar vor dem Throne einbringen, dann könnten ſie wohlwollender Prüfung ſicher ſein. Nachher wurde die Mehrheit durch ihre Polenſchwärmerei noch zu einem höchſt unziemlichen Beſchluſſe ver- leitet: ſie bat den König ſchon im Voraus, gegen die gefangenen polniſchen Verſchwörer „nach Möglichkeit Gnade walten zu laſſen“, obgleich doch erſt der bevorſtehende Polenproceß erweiſen konnte, wie ſchwer dieſe Rebellen ſich gegen ihre milde Regierung vergangen hatten. Eine Beſprechung ward abſichtlich unterlaſſen, weil man die Gefühle der polniſchen Abgeordneten, deren Freunde und Verwandte im Kerker ſaßen, zartſinnig ſchonen wollte.
Wie hier, ſo wurden auch in vielen anderen Fällen die kleinlichen Vorſchriften der Geſchäftsordnung übertreten. Der König ſtand ſchon längſt auf der ſchiefen Fläche, vor der ihn Metternich ſo oft gewarnt hatte.
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V. 8. Der Vereinigte Landtag.
Begehren. Die liberale Preſſe lärmte, ſie forderte die Freiheit wie in
Kurheſſen, und ſchon ließ ſich vorherſehen, daß die Gedanken des na-
poleoniſchen Rechts über lang oder kurz den Sieg erringen würden.
Auch die Polen verlangten von den Ständen „Erhaltung ihrer Na-
tionalität und Sprache“. Aber im Vereinigten Landtage zeigten dieſelben
Männer, die auf ihrem Provinziallandtage ſo oft zuchtlos getobt hatten,
eine auffällige Beſcheidenheit, Fürſt Radziwill galt in der Herrencurie ſogar
für einen warmen Anhänger der Regierung. Die Mäßigung war ſchlau be-
rechnet; denn der große Polenproceß ſtand grade vor der Thür, und die pol-
niſchen Abgeordneten fürchteten durch Kundgebung ihrer wahren Geſinnung
das Schickſal ihrer angeklagten Landsleute zu erſchweren. Die Liberalen
erwieſen den Polen, trotz der frechen Empörung des vergangenen Jahres,
eine ſchwächliche, ſentimentale Theilnahme. Vincke ſprach wieder ſehr ſchön
und wieder ſehr unklug, ohne jede Sachkenntniß; er empfahl Nachgiebigkeit,
damit die Polen „ſich ganz deutſch und preußiſch fühlten“ — woran ſie
doch ſelber gar nicht dachten. Wie tief ward dieſe deutſche Fremdbrüder-
lichkeit beſchämt, als der oberſchleſiſche Pole Wodiczka jede Geſinnungs-
gemeinſchaft mit den Poſener Unzufriedenen feierlich zurückwies. Die Polen,
rief er aus, ſehen uns nicht als polniſche Brüder an; und in der That
waren die ſchleſiſchen Waſſerpolaken von ihren ſarmatiſchen Nachbarn durch
die Verſchiedenheit der Geſchichte, der Sitten, des Dialekts ſcharf getrennt
und der Krone Preußen dankbar ergeben. „Wir Oberſchleſier“, ſo ſchloß
Wodiczka, „wollen nur als deutſche Brüder, als Preußen angeſehen und
behandelt werden.“ Der Landtag nahm die Petition der Poſener an,
obgleich er ſich, nach dem Patente, mit Provinzialbeſchwerden nicht be-
faſſen durfte. Der ſechsjährige gemeinſame Kampf gegen die Regierung
hatte die Provinziallandtage einander genähert, der Parteigeiſt überwucherte
den alten deutſchen Markmannenſtolz, die liberalen Polen zu begünſtigen
galt jetzt ſelbſt in Oſtpreußen ſchon als eine liberale Ehrenpflicht. Der König
aber, der ſeinen Polen auch nichts übel nahm, ließ die Bittſteller gnädig
bedeuten, ſie ſollten ihren Antrag gehörigen Orts, bei ihrem Provinzial-
landtage oder unmittelbar vor dem Throne einbringen, dann könnten ſie
wohlwollender Prüfung ſicher ſein. Nachher wurde die Mehrheit durch
ihre Polenſchwärmerei noch zu einem höchſt unziemlichen Beſchluſſe ver-
leitet: ſie bat den König ſchon im Voraus, gegen die gefangenen polniſchen
Verſchwörer „nach Möglichkeit Gnade walten zu laſſen“, obgleich doch erſt
der bevorſtehende Polenproceß erweiſen konnte, wie ſchwer dieſe Rebellen
ſich gegen ihre milde Regierung vergangen hatten. Eine Beſprechung ward
abſichtlich unterlaſſen, weil man die Gefühle der polniſchen Abgeordneten,
deren Freunde und Verwandte im Kerker ſaßen, zartſinnig ſchonen wollte.
Wie hier, ſo wurden auch in vielen anderen Fällen die kleinlichen
Vorſchriften der Geſchäftsordnung übertreten. Der König ſtand ſchon
längſt auf der ſchiefen Fläche, vor der ihn Metternich ſo oft gewarnt hatte.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 636. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/650>, abgerufen am 22.11.2024.
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