Unterdessen schwoll die constitutionelle Bewegung im Lande beständig an. Der König hatte im Jahre 1843 den Posener Landständen rundweg erwidert, daß er die Verordnung vom 22. Mai 1815 nicht als rechts- verbindlich ansehe, und dadurch wie durch sein räthselhaftes Zaudern die allgemeine Besorgniß nur gesteigert. Auf den Provinziallandtagen von 1845 zeigte sich schon fast überall eine ungeduldige, gereizte Stimmung. In Münster sagte der junge Freiherr Georg v. Vincke, ein Sohn des alten Oberpräsidenten: Preußen müsse sich, wie im Zollvereine, so auch durch eine freie Verfassung "an die Spitze der deutschen Staaten stellen"; er sprach damit nur aus was die Jugend überall dunkel erhoffte, der preußische Ehrgeiz und der Liberalismus begannen sich zu verbünden. Sein An- trag, die Krone um Verleihung einer reichsständischen Verfassung zu bitten erlangte zwar bei den conservativen Westphalen noch nicht die gesetzliche Zweidrittelmehrheit, doch seine mächtige Rede hallte weit im Lande wieder. Stärkere Zustimmung fand der gleiche Antrag bei den Ständen des Rhein- lands; Beckerath, Camphausen, fast alle Führer des rheinischen Bürger- thums traten lebhaft dafür ein, und vernehmlich sprach aus ihren Reden die stolze Zuversicht, daß die Institutionen des freien Rheinlands unter dem Schutze der Verfassung dem gesammten preußischen Staate zu theil werden müßten. Dem preußischen Landtage überreichten die radicalen Elbinger eine Petition, welche noch weit über die königlichen Verheißungen hinausging und in starkem, fast drohendem Tone eine alle Klassen um- fassende Landesrepräsentation forderte. Wie unwiderstehlich waren doch die Verfassungsgedanken in kurzen vier Jahren erstarkt. Alle Provinziallandtage -- nur Brandenburg und Pommern ausgenommen -- beriethen den An- trag auf Verleihung einer Gesammtstaats-Verfassung, und in allen sechs -- mit der einzigen Ausnahme Sachsens -- erlangte er die Mehrheit, die Zweidrittelmehrheit freilich nur in Preußen und Posen. Als man im Ministerium die Summe zog, da ergab sich, daß schon die große Mehr- zahl aller Provinzialabgeordneten für die reichsständische Idee gewonnen war, und man war ehrlich genug einzugestehen, daß Viele aus der Minder- heit lediglich aus Ehrfurcht vor der Krone ihre wahre Meinung zurück- gehalten hatten.*) Gleichwohl ließ der König, da Niemand ihm vorgreifen durfte, alle solche Wünsche abermals kurz abweisen, desgleichen die Bitte der Schlesier um Preßfreiheit und die wiederholten Anträge auf Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen. Er rühmte oft, kein Land der Welt besitze so ganz unabhängige Landstände, und in der That war alle Corruption, alle Wahl- verfälschung in Preußen noch ganz unbekannt; doch wenn er von seinen Ständen so hoch dachte, wie konnte er dann hoffen, daß sie sich auf die Dauer bei seinem beharrlich wiederholten achtfachen Nein beruhigen würden?
*) Denkschrift des Ministeriums des Innern, 13. Mai 1845.
Savigny und Uhden. Ständiſche Bewegung.
Unterdeſſen ſchwoll die conſtitutionelle Bewegung im Lande beſtändig an. Der König hatte im Jahre 1843 den Poſener Landſtänden rundweg erwidert, daß er die Verordnung vom 22. Mai 1815 nicht als rechts- verbindlich anſehe, und dadurch wie durch ſein räthſelhaftes Zaudern die allgemeine Beſorgniß nur geſteigert. Auf den Provinziallandtagen von 1845 zeigte ſich ſchon faſt überall eine ungeduldige, gereizte Stimmung. In Münſter ſagte der junge Freiherr Georg v. Vincke, ein Sohn des alten Oberpräſidenten: Preußen müſſe ſich, wie im Zollvereine, ſo auch durch eine freie Verfaſſung „an die Spitze der deutſchen Staaten ſtellen“; er ſprach damit nur aus was die Jugend überall dunkel erhoffte, der preußiſche Ehrgeiz und der Liberalismus begannen ſich zu verbünden. Sein An- trag, die Krone um Verleihung einer reichsſtändiſchen Verfaſſung zu bitten erlangte zwar bei den conſervativen Weſtphalen noch nicht die geſetzliche Zweidrittelmehrheit, doch ſeine mächtige Rede hallte weit im Lande wieder. Stärkere Zuſtimmung fand der gleiche Antrag bei den Ständen des Rhein- lands; Beckerath, Camphauſen, faſt alle Führer des rheiniſchen Bürger- thums traten lebhaft dafür ein, und vernehmlich ſprach aus ihren Reden die ſtolze Zuverſicht, daß die Inſtitutionen des freien Rheinlands unter dem Schutze der Verfaſſung dem geſammten preußiſchen Staate zu theil werden müßten. Dem preußiſchen Landtage überreichten die radicalen Elbinger eine Petition, welche noch weit über die königlichen Verheißungen hinausging und in ſtarkem, faſt drohendem Tone eine alle Klaſſen um- faſſende Landesrepräſentation forderte. Wie unwiderſtehlich waren doch die Verfaſſungsgedanken in kurzen vier Jahren erſtarkt. Alle Provinziallandtage — nur Brandenburg und Pommern ausgenommen — beriethen den An- trag auf Verleihung einer Geſammtſtaats-Verfaſſung, und in allen ſechs — mit der einzigen Ausnahme Sachſens — erlangte er die Mehrheit, die Zweidrittelmehrheit freilich nur in Preußen und Poſen. Als man im Miniſterium die Summe zog, da ergab ſich, daß ſchon die große Mehr- zahl aller Provinzialabgeordneten für die reichsſtändiſche Idee gewonnen war, und man war ehrlich genug einzugeſtehen, daß Viele aus der Minder- heit lediglich aus Ehrfurcht vor der Krone ihre wahre Meinung zurück- gehalten hatten.*) Gleichwohl ließ der König, da Niemand ihm vorgreifen durfte, alle ſolche Wünſche abermals kurz abweiſen, desgleichen die Bitte der Schleſier um Preßfreiheit und die wiederholten Anträge auf Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen. Er rühmte oft, kein Land der Welt beſitze ſo ganz unabhängige Landſtände, und in der That war alle Corruption, alle Wahl- verfälſchung in Preußen noch ganz unbekannt; doch wenn er von ſeinen Ständen ſo hoch dachte, wie konnte er dann hoffen, daß ſie ſich auf die Dauer bei ſeinem beharrlich wiederholten achtfachen Nein beruhigen würden?
*) Denkſchrift des Miniſteriums des Innern, 13. Mai 1845.
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[601/0615]
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erwidert, daß er die Verordnung vom 22. Mai 1815 nicht als rechts-
verbindlich anſehe, und dadurch wie durch ſein räthſelhaftes Zaudern die
allgemeine Beſorgniß nur geſteigert. Auf den Provinziallandtagen von
1845 zeigte ſich ſchon faſt überall eine ungeduldige, gereizte Stimmung.
In Münſter ſagte der junge Freiherr Georg v. Vincke, ein Sohn des
alten Oberpräſidenten: Preußen müſſe ſich, wie im Zollvereine, ſo auch
durch eine freie Verfaſſung „an die Spitze der deutſchen Staaten ſtellen“; er
ſprach damit nur aus was die Jugend überall dunkel erhoffte, der preußiſche
Ehrgeiz und der Liberalismus begannen ſich zu verbünden. Sein An-
trag, die Krone um Verleihung einer reichsſtändiſchen Verfaſſung zu bitten
erlangte zwar bei den conſervativen Weſtphalen noch nicht die geſetzliche
Zweidrittelmehrheit, doch ſeine mächtige Rede hallte weit im Lande wieder.
Stärkere Zuſtimmung fand der gleiche Antrag bei den Ständen des Rhein-
lands; Beckerath, Camphauſen, faſt alle Führer des rheiniſchen Bürger-
thums traten lebhaft dafür ein, und vernehmlich ſprach aus ihren Reden
die ſtolze Zuverſicht, daß die Inſtitutionen des freien Rheinlands unter
dem Schutze der Verfaſſung dem geſammten preußiſchen Staate zu theil
werden müßten. Dem preußiſchen Landtage überreichten die radicalen
Elbinger eine Petition, welche noch weit über die königlichen Verheißungen
hinausging und in ſtarkem, faſt drohendem Tone eine alle Klaſſen um-
faſſende Landesrepräſentation forderte. Wie unwiderſtehlich waren doch die
Verfaſſungsgedanken in kurzen vier Jahren erſtarkt. Alle Provinziallandtage
— nur Brandenburg und Pommern ausgenommen — beriethen den An-
trag auf Verleihung einer Geſammtſtaats-Verfaſſung, und in allen ſechs
— mit der einzigen Ausnahme Sachſens — erlangte er die Mehrheit,
die Zweidrittelmehrheit freilich nur in Preußen und Poſen. Als man im
Miniſterium die Summe zog, da ergab ſich, daß ſchon die große Mehr-
zahl aller Provinzialabgeordneten für die reichsſtändiſche Idee gewonnen
war, und man war ehrlich genug einzugeſtehen, daß Viele aus der Minder-
heit lediglich aus Ehrfurcht vor der Krone ihre wahre Meinung zurück-
gehalten hatten. *) Gleichwohl ließ der König, da Niemand ihm vorgreifen
durfte, alle ſolche Wünſche abermals kurz abweiſen, desgleichen die Bitte der
Schleſier um Preßfreiheit und die wiederholten Anträge auf Oeffentlichkeit der
Landtagsverhandlungen. Er rühmte oft, kein Land der Welt beſitze ſo ganz
unabhängige Landſtände, und in der That war alle Corruption, alle Wahl-
verfälſchung in Preußen noch ganz unbekannt; doch wenn er von ſeinen
Ständen ſo hoch dachte, wie konnte er dann hoffen, daß ſie ſich auf
die Dauer bei ſeinem beharrlich wiederholten achtfachen Nein beruhigen
würden?
*) Denkſchrift des Miniſteriums des Innern, 13. Mai 1845.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 601. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/615>, abgerufen am 23.11.2024.
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