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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 8. Der Vereinigte Landtag.
so ganz anders verfuhr als sein Vorbild Carnot. Der Franzose hatte einst
das Heer gekräftigt durch die Vereinigung der Linie mit dem Volksauf-
gebote, der Deutsche suchte beide streng auseinanderzuhalten. Er erwirkte
sogar (1847) einen königlichen Befehl, kraft dessen auch die Landwehr-
schwadronen künftighin nur im Nothfalle durch Linienoffiziere befehligt
werden sollten; und doch ließen sich rüstige Landwehrrittmeister noch weit
schwerer auffinden als tüchtige Landwehrhauptleute. Er beförderte selbst
einzelne Landwehroffiziere in die Stabsoffiziersstellen, was seit 1820 fast
nie mehr geschehen war. Auch das übertriebene Lob, das er nach jedem
Manöver den Landwehren spenden ließ, wirkte schädlich. In dieser Be-
günstigung der Landwehr lag die Schwäche seiner zweiten Amtsführung,
und es konnte nicht fehlen, daß die Linienoffiziere oft über ihn klagten;
selbst General Canitz sprach von dem alten Kriegsminister mit der ärgsten
Ungerechtigkeit. Ohnehin hatte der langweilige Frieden in der Armee viel
böses Blut aufgeregt. Das Avancement stockte gänzlich; die Hauptleute
waren im Durchschnitt älter als vor der Schlacht von Jena, zudem schlechter
bezahlt und unvergleichlich stärker beschäftigt. Die Linienregimenter murrten,
weil die Garde ihnen die von ihr selbst schlecht ausgebildeten Offiziere
zusendete. Ueber den unmilitärischen Monarchen erlaubten sich selbst die
jüngeren königlichen Prinzen zuweilen rücksichtslose Urtheile.*) Seit dem
Tode Grolman's (1843) war der Prinz von Preußen die Hoffnung der
Armee, und von ihm wußte man doch auch, daß er mit dem königlichen
Bruder wenig übereinstimmte, obschon er im Kreise der Offiziere stets eine
gemessene Haltung bewahrte.

Anhaltende Streitigkeiten zwischen dem Heere und dem Volke sind
in einem Staate der allgemeinen Wehrpflicht stets ein Zeichen verschro-
bener politischer Zustände, und in der That ließ es sich nur aus der
krankhaften Verstimmung der Zeit erklären, daß unter der Verwaltung
eines für liberal gehaltenen Kriegsministers Bürger und Soldaten häufiger
als je zuvor mit einander in Händel geriethen. Einige Schuld trugen die
Offiziere selbst. Der hochmüthige Ton von 1806 wurde oft wieder laut,
in Berlin gab der Gouverneur General Müffling durch schnöde Behand-
lung der Gemeindebehörden ein schlechtes Beispiel. Die größere Schuld
trugen jedoch die Parteimänner der Opposition, die in selbstmörderischer
Verblendung das Heer reizten und beschimpften, während die französischen
Demagogen den Truppen klug zu schmeicheln wußten. Den Flugschriften
der Flüchtlinge schien kein Schmähwort zu gemein für die Hundetreue
der verthierten Söldlinge, aber auch die Blätter der gemäßigten Liberalen
redeten vom Heere mit einer verständnißlosen Gehässigkeit, die wir heute
kaum noch begreifen. Da hießen die Cadettenhäuser "Mißgeburten einer

*) General v. Thile II., Denkschrift über die Mißstimmung in der Armee, o. D.
(etwa 1847).

V. 8. Der Vereinigte Landtag.
ſo ganz anders verfuhr als ſein Vorbild Carnot. Der Franzoſe hatte einſt
das Heer gekräftigt durch die Vereinigung der Linie mit dem Volksauf-
gebote, der Deutſche ſuchte beide ſtreng auseinanderzuhalten. Er erwirkte
ſogar (1847) einen königlichen Befehl, kraft deſſen auch die Landwehr-
ſchwadronen künftighin nur im Nothfalle durch Linienoffiziere befehligt
werden ſollten; und doch ließen ſich rüſtige Landwehrrittmeiſter noch weit
ſchwerer auffinden als tüchtige Landwehrhauptleute. Er beförderte ſelbſt
einzelne Landwehroffiziere in die Stabsoffiziersſtellen, was ſeit 1820 faſt
nie mehr geſchehen war. Auch das übertriebene Lob, das er nach jedem
Manöver den Landwehren ſpenden ließ, wirkte ſchädlich. In dieſer Be-
günſtigung der Landwehr lag die Schwäche ſeiner zweiten Amtsführung,
und es konnte nicht fehlen, daß die Linienoffiziere oft über ihn klagten;
ſelbſt General Canitz ſprach von dem alten Kriegsminiſter mit der ärgſten
Ungerechtigkeit. Ohnehin hatte der langweilige Frieden in der Armee viel
böſes Blut aufgeregt. Das Avancement ſtockte gänzlich; die Hauptleute
waren im Durchſchnitt älter als vor der Schlacht von Jena, zudem ſchlechter
bezahlt und unvergleichlich ſtärker beſchäftigt. Die Linienregimenter murrten,
weil die Garde ihnen die von ihr ſelbſt ſchlecht ausgebildeten Offiziere
zuſendete. Ueber den unmilitäriſchen Monarchen erlaubten ſich ſelbſt die
jüngeren königlichen Prinzen zuweilen rückſichtsloſe Urtheile.*) Seit dem
Tode Grolman’s (1843) war der Prinz von Preußen die Hoffnung der
Armee, und von ihm wußte man doch auch, daß er mit dem königlichen
Bruder wenig übereinſtimmte, obſchon er im Kreiſe der Offiziere ſtets eine
gemeſſene Haltung bewahrte.

Anhaltende Streitigkeiten zwiſchen dem Heere und dem Volke ſind
in einem Staate der allgemeinen Wehrpflicht ſtets ein Zeichen verſchro-
bener politiſcher Zuſtände, und in der That ließ es ſich nur aus der
krankhaften Verſtimmung der Zeit erklären, daß unter der Verwaltung
eines für liberal gehaltenen Kriegsminiſters Bürger und Soldaten häufiger
als je zuvor mit einander in Händel geriethen. Einige Schuld trugen die
Offiziere ſelbſt. Der hochmüthige Ton von 1806 wurde oft wieder laut,
in Berlin gab der Gouverneur General Müffling durch ſchnöde Behand-
lung der Gemeindebehörden ein ſchlechtes Beiſpiel. Die größere Schuld
trugen jedoch die Parteimänner der Oppoſition, die in ſelbſtmörderiſcher
Verblendung das Heer reizten und beſchimpften, während die franzöſiſchen
Demagogen den Truppen klug zu ſchmeicheln wußten. Den Flugſchriften
der Flüchtlinge ſchien kein Schmähwort zu gemein für die Hundetreue
der verthierten Söldlinge, aber auch die Blätter der gemäßigten Liberalen
redeten vom Heere mit einer verſtändnißloſen Gehäſſigkeit, die wir heute
kaum noch begreifen. Da hießen die Cadettenhäuſer „Mißgeburten einer

*) General v. Thile II., Denkſchrift über die Mißſtimmung in der Armee, o. D.
(etwa 1847).
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[596/0610] V. 8. Der Vereinigte Landtag. ſo ganz anders verfuhr als ſein Vorbild Carnot. Der Franzoſe hatte einſt das Heer gekräftigt durch die Vereinigung der Linie mit dem Volksauf- gebote, der Deutſche ſuchte beide ſtreng auseinanderzuhalten. Er erwirkte ſogar (1847) einen königlichen Befehl, kraft deſſen auch die Landwehr- ſchwadronen künftighin nur im Nothfalle durch Linienoffiziere befehligt werden ſollten; und doch ließen ſich rüſtige Landwehrrittmeiſter noch weit ſchwerer auffinden als tüchtige Landwehrhauptleute. Er beförderte ſelbſt einzelne Landwehroffiziere in die Stabsoffiziersſtellen, was ſeit 1820 faſt nie mehr geſchehen war. Auch das übertriebene Lob, das er nach jedem Manöver den Landwehren ſpenden ließ, wirkte ſchädlich. In dieſer Be- günſtigung der Landwehr lag die Schwäche ſeiner zweiten Amtsführung, und es konnte nicht fehlen, daß die Linienoffiziere oft über ihn klagten; ſelbſt General Canitz ſprach von dem alten Kriegsminiſter mit der ärgſten Ungerechtigkeit. Ohnehin hatte der langweilige Frieden in der Armee viel böſes Blut aufgeregt. Das Avancement ſtockte gänzlich; die Hauptleute waren im Durchſchnitt älter als vor der Schlacht von Jena, zudem ſchlechter bezahlt und unvergleichlich ſtärker beſchäftigt. Die Linienregimenter murrten, weil die Garde ihnen die von ihr ſelbſt ſchlecht ausgebildeten Offiziere zuſendete. Ueber den unmilitäriſchen Monarchen erlaubten ſich ſelbſt die jüngeren königlichen Prinzen zuweilen rückſichtsloſe Urtheile. *) Seit dem Tode Grolman’s (1843) war der Prinz von Preußen die Hoffnung der Armee, und von ihm wußte man doch auch, daß er mit dem königlichen Bruder wenig übereinſtimmte, obſchon er im Kreiſe der Offiziere ſtets eine gemeſſene Haltung bewahrte. Anhaltende Streitigkeiten zwiſchen dem Heere und dem Volke ſind in einem Staate der allgemeinen Wehrpflicht ſtets ein Zeichen verſchro- bener politiſcher Zuſtände, und in der That ließ es ſich nur aus der krankhaften Verſtimmung der Zeit erklären, daß unter der Verwaltung eines für liberal gehaltenen Kriegsminiſters Bürger und Soldaten häufiger als je zuvor mit einander in Händel geriethen. Einige Schuld trugen die Offiziere ſelbſt. Der hochmüthige Ton von 1806 wurde oft wieder laut, in Berlin gab der Gouverneur General Müffling durch ſchnöde Behand- lung der Gemeindebehörden ein ſchlechtes Beiſpiel. Die größere Schuld trugen jedoch die Parteimänner der Oppoſition, die in ſelbſtmörderiſcher Verblendung das Heer reizten und beſchimpften, während die franzöſiſchen Demagogen den Truppen klug zu ſchmeicheln wußten. Den Flugſchriften der Flüchtlinge ſchien kein Schmähwort zu gemein für die Hundetreue der verthierten Söldlinge, aber auch die Blätter der gemäßigten Liberalen redeten vom Heere mit einer verſtändnißloſen Gehäſſigkeit, die wir heute kaum noch begreifen. Da hießen die Cadettenhäuſer „Mißgeburten einer *) General v. Thile II., Denkſchrift über die Mißſtimmung in der Armee, o. D. (etwa 1847).

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/610>, abgerufen am 23.11.2024.