ehe man so heftige Vorwürfe erhebt, müßte man wenigstens die Stimme der griechischen Nation hören."*) In Athen erregten Palmerston's Wuth- ausbrüche und die wachsende Anmaßung seines Gesandten Lyons nur Wider- willen.
Kolettis behauptete sich, und unter seiner mehrjährigen Regierung drang die französische Gesinnung den Hellenen in Fleisch und Blut. Den deutschen Philologen, zumal dem geistvollen Otfried Müller, der auf dem Hügel von Kolonos sein frühes Grab fand, widmeten sie wohl einige Hoch- achtung; ihre Liebe aber schenkten sie, wie alle Orientalen, den Pariser Sitten. Der Tuilerienhof beeiferte sich auch, durch seine freundliche Haltung solche Empfindung zu bestärken, und ganz unwiderstehlich erschien diesem halbgesitteten Volke die Macht der französischen liberalen Phrase. Die beiden Hauptplätze Athens hießen nach dem Pariser Muster der Eintrachtsplatz und der Verfassungsplatz, man lustwandelte Abends von der Homonoia zum Syntagma. Doch die Eintracht stand auf ebenso schwachen Füßen wie das Grundgesetz. Die politische Kraft der Hellenen war durch die berechnete Grausamkeit der Schutzmächte, durch inneren Zwist und kauf- männische Waffenscheu auf lange hinaus geschwächt, und die sanfte Schirm- herrschaft, welche der französische Gesandte fortan im Schatten der Akro- polis ausübte, bedeutete für Europa sehr wenig.
In Athen konnten England und Rußland den Schein der Freund- schaft wahren, weil beide das Verderben ihres Schützlings planten. Sonst ließ sich die natürliche Nebenbuhlerschaft der beiden Mächte nirgends mehr im Oriente ganz verhüllen. Nesselrode wiederholte beständig die friedfer- tigen Betheuerungen, die er schon vor Jahren dem britischen Cabinet ge- geben hatte: "die Politik des Kaisers im Oriente wird von denselben Grundsätzen beherrscht, welche sie in Europa leiten. Entfernt von jedem Eroberungsplane hat diese Politik zum einzigen Zweck die Aufrechterhaltung der Rechte Rußlands und die Achtung vor den durch andere Mächte er- worbenen legitimen Rechten. Der Gedanke, die Ruhe der englischen Be- sitzungen in Indien auch nur zu stören, ist dem Geiste unseres erhabenen Herrn niemals nahe getreten."**) Wenn solche Versicherungen in London eintrafen, dann sagte Robert Peel schwermüthig: man darf im öffentlichen Interesse nicht annehmen, daß Rußland seine Versprechungen nicht halten wird. Mittlerweile eroberten die Heere des Czaren nach und nach den Kaukasus, und seit das Waffenglück ihnen günstig wurde, zeigte die Nation lebhafte Freude an dem Kriege. Das Kaspische Meer war bereits ein moskowitischer Binnensee; russische Dampfer, mit persischen Kohlen geheizt, befuhren seine Gewässer, und also im Rücken gedeckt, drangen die nordischen Eroberer weiter und weiter in die transkaspischen Gebiete. Die wieder-
*) Canitz an Westmoreland, 30. Mai 1847.
**) Nesselrode an Pozzo di Borgo, 20. Oct. 1838.
V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ehe man ſo heftige Vorwürfe erhebt, müßte man wenigſtens die Stimme der griechiſchen Nation hören.“*) In Athen erregten Palmerſton’s Wuth- ausbrüche und die wachſende Anmaßung ſeines Geſandten Lyons nur Wider- willen.
Kolettis behauptete ſich, und unter ſeiner mehrjährigen Regierung drang die franzöſiſche Geſinnung den Hellenen in Fleiſch und Blut. Den deutſchen Philologen, zumal dem geiſtvollen Otfried Müller, der auf dem Hügel von Kolonos ſein frühes Grab fand, widmeten ſie wohl einige Hoch- achtung; ihre Liebe aber ſchenkten ſie, wie alle Orientalen, den Pariſer Sitten. Der Tuilerienhof beeiferte ſich auch, durch ſeine freundliche Haltung ſolche Empfindung zu beſtärken, und ganz unwiderſtehlich erſchien dieſem halbgeſitteten Volke die Macht der franzöſiſchen liberalen Phraſe. Die beiden Hauptplätze Athens hießen nach dem Pariſer Muſter der Eintrachtsplatz und der Verfaſſungsplatz, man luſtwandelte Abends von der Homonoia zum Syntagma. Doch die Eintracht ſtand auf ebenſo ſchwachen Füßen wie das Grundgeſetz. Die politiſche Kraft der Hellenen war durch die berechnete Grauſamkeit der Schutzmächte, durch inneren Zwiſt und kauf- männiſche Waffenſcheu auf lange hinaus geſchwächt, und die ſanfte Schirm- herrſchaft, welche der franzöſiſche Geſandte fortan im Schatten der Akro- polis ausübte, bedeutete für Europa ſehr wenig.
In Athen konnten England und Rußland den Schein der Freund- ſchaft wahren, weil beide das Verderben ihres Schützlings planten. Sonſt ließ ſich die natürliche Nebenbuhlerſchaft der beiden Mächte nirgends mehr im Oriente ganz verhüllen. Neſſelrode wiederholte beſtändig die friedfer- tigen Betheuerungen, die er ſchon vor Jahren dem britiſchen Cabinet ge- geben hatte: „die Politik des Kaiſers im Oriente wird von denſelben Grundſätzen beherrſcht, welche ſie in Europa leiten. Entfernt von jedem Eroberungsplane hat dieſe Politik zum einzigen Zweck die Aufrechterhaltung der Rechte Rußlands und die Achtung vor den durch andere Mächte er- worbenen legitimen Rechten. Der Gedanke, die Ruhe der engliſchen Be- ſitzungen in Indien auch nur zu ſtören, iſt dem Geiſte unſeres erhabenen Herrn niemals nahe getreten.“**) Wenn ſolche Verſicherungen in London eintrafen, dann ſagte Robert Peel ſchwermüthig: man darf im öffentlichen Intereſſe nicht annehmen, daß Rußland ſeine Verſprechungen nicht halten wird. Mittlerweile eroberten die Heere des Czaren nach und nach den Kaukaſus, und ſeit das Waffenglück ihnen günſtig wurde, zeigte die Nation lebhafte Freude an dem Kriege. Das Kaspiſche Meer war bereits ein moskowitiſcher Binnenſee; ruſſiſche Dampfer, mit perſiſchen Kohlen geheizt, befuhren ſeine Gewäſſer, und alſo im Rücken gedeckt, drangen die nordiſchen Eroberer weiter und weiter in die transkaspiſchen Gebiete. Die wieder-
*) Canitz an Weſtmoreland, 30. Mai 1847.
**) Neſſelrode an Pozzo di Borgo, 20. Oct. 1838.
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V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ehe man ſo heftige Vorwürfe erhebt, müßte man wenigſtens die Stimme
der griechiſchen Nation hören.“ *) In Athen erregten Palmerſton’s Wuth-
ausbrüche und die wachſende Anmaßung ſeines Geſandten Lyons nur Wider-
willen.
Kolettis behauptete ſich, und unter ſeiner mehrjährigen Regierung
drang die franzöſiſche Geſinnung den Hellenen in Fleiſch und Blut. Den
deutſchen Philologen, zumal dem geiſtvollen Otfried Müller, der auf dem
Hügel von Kolonos ſein frühes Grab fand, widmeten ſie wohl einige Hoch-
achtung; ihre Liebe aber ſchenkten ſie, wie alle Orientalen, den Pariſer
Sitten. Der Tuilerienhof beeiferte ſich auch, durch ſeine freundliche Haltung
ſolche Empfindung zu beſtärken, und ganz unwiderſtehlich erſchien dieſem
halbgeſitteten Volke die Macht der franzöſiſchen liberalen Phraſe. Die beiden
Hauptplätze Athens hießen nach dem Pariſer Muſter der Eintrachtsplatz
und der Verfaſſungsplatz, man luſtwandelte Abends von der Homonoia
zum Syntagma. Doch die Eintracht ſtand auf ebenſo ſchwachen Füßen
wie das Grundgeſetz. Die politiſche Kraft der Hellenen war durch die
berechnete Grauſamkeit der Schutzmächte, durch inneren Zwiſt und kauf-
männiſche Waffenſcheu auf lange hinaus geſchwächt, und die ſanfte Schirm-
herrſchaft, welche der franzöſiſche Geſandte fortan im Schatten der Akro-
polis ausübte, bedeutete für Europa ſehr wenig.
In Athen konnten England und Rußland den Schein der Freund-
ſchaft wahren, weil beide das Verderben ihres Schützlings planten. Sonſt
ließ ſich die natürliche Nebenbuhlerſchaft der beiden Mächte nirgends mehr
im Oriente ganz verhüllen. Neſſelrode wiederholte beſtändig die friedfer-
tigen Betheuerungen, die er ſchon vor Jahren dem britiſchen Cabinet ge-
geben hatte: „die Politik des Kaiſers im Oriente wird von denſelben
Grundſätzen beherrſcht, welche ſie in Europa leiten. Entfernt von jedem
Eroberungsplane hat dieſe Politik zum einzigen Zweck die Aufrechterhaltung
der Rechte Rußlands und die Achtung vor den durch andere Mächte er-
worbenen legitimen Rechten. Der Gedanke, die Ruhe der engliſchen Be-
ſitzungen in Indien auch nur zu ſtören, iſt dem Geiſte unſeres erhabenen
Herrn niemals nahe getreten.“ **) Wenn ſolche Verſicherungen in London
eintrafen, dann ſagte Robert Peel ſchwermüthig: man darf im öffentlichen
Intereſſe nicht annehmen, daß Rußland ſeine Verſprechungen nicht halten
wird. Mittlerweile eroberten die Heere des Czaren nach und nach den
Kaukaſus, und ſeit das Waffenglück ihnen günſtig wurde, zeigte die Nation
lebhafte Freude an dem Kriege. Das Kaspiſche Meer war bereits ein
moskowitiſcher Binnenſee; ruſſiſche Dampfer, mit perſiſchen Kohlen geheizt,
befuhren ſeine Gewäſſer, und alſo im Rücken gedeckt, drangen die nordiſchen
Eroberer weiter und weiter in die transkaspiſchen Gebiete. Die wieder-
*) Canitz an Weſtmoreland, 30. Mai 1847.
**) Neſſelrode an Pozzo di Borgo, 20. Oct. 1838.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/550>, abgerufen am 25.11.2024.
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