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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Siebenter Abschnitt.

Polen und Schleswigholstein.

Seit der Meerengen-Vertrag den Weltfrieden nothdürftig hergestellt und
zugleich alle die alten Allianzen gelockert hatte, blieb die diplomatische Welt
mehrere Jahre hindurch fast unbeweglich. In den Kolonien betrieb Eng-
land, in Innerasien Rußland unausgesetzt die alte Eroberungspolitik; in
Europa aber suchten alle Mächte behutsam den Frieden zu wahren. Die
einen lähmte die Ahnung der nahenden Revolution, die anderen die Angst
vor den Kriegswirren, welche der Tod des alternden Bürgerkönigs herauf-
zuführen drohte. Wie unberechenbar die Zukunft dieser geraubten Krone
war, das fühlten alle tief erschreckt, als der Herzog von Orleans im Juli
1842 aus dem Wagen stürzte und starb. Aufrichtig beweinten die Fran-
zosen ihren Thronfolger. In seinem Testamente ermahnte er seinen Erben,
allezeit ein Katholik, ein ergebener Sohn Frankreichs und der Revolution
zu bleiben, auch wenn er nie die Krone tragen sollte; und so als ein echter
Vertreter des modernen militärisch-liberalen französischen Geistes hatte er
sich selber immer gehalten. Eine Welt von ehrgeizigen Hoffnungen ging
mit ihm zu Grabe, und Alfred de Musset sang: "doch eine Seite bleibt
in der Geschichte leer, ein ganz Jahrhundert, ach, voll Ruhmes kommt
nicht mehr!" Nach heftigen parlamentarischen Kämpfen wurde die Regent-
schaft für den Fall der Thronbesteigung des minderjährigen Grafen von
Paris dem ältesten Oheim, dem Herzog von Nemours übertragen. Diesem
Lieblingssohne Ludwig Philipp's konnte Niemand, wie dem Verstorbenen,
kühne kriegerische Pläne zutrauen; das Volk aber liebte den ernsten, steifen,
conservativen Prinzen wenig, und wer durfte hoffen, daß eine solche Regent-
schaft sich halten oder die nationalen Leidenschaften bändigen würde?

Je dunkler also die Aussichten des Julikönigthums erschienen, um so
ängstlicher vermieden die Mächte Alles was den Bestand dieser gebrech-
lichen Dynastie irgend gefährden konnte. Darum wurde König Friedrich
Wilhelm von den verbündeten Höfen nur mit leeren Worten unterstützt,
als er das rechtswidrige Unternehmen des belgisch-französischen Zoll-
vereins bekämpfte und schließlich vernichtete. Ebenso vereinsamt stand er

Siebenter Abſchnitt.

Polen und Schleswigholſtein.

Seit der Meerengen-Vertrag den Weltfrieden nothdürftig hergeſtellt und
zugleich alle die alten Allianzen gelockert hatte, blieb die diplomatiſche Welt
mehrere Jahre hindurch faſt unbeweglich. In den Kolonien betrieb Eng-
land, in Inneraſien Rußland unausgeſetzt die alte Eroberungspolitik; in
Europa aber ſuchten alle Mächte behutſam den Frieden zu wahren. Die
einen lähmte die Ahnung der nahenden Revolution, die anderen die Angſt
vor den Kriegswirren, welche der Tod des alternden Bürgerkönigs herauf-
zuführen drohte. Wie unberechenbar die Zukunft dieſer geraubten Krone
war, das fühlten alle tief erſchreckt, als der Herzog von Orleans im Juli
1842 aus dem Wagen ſtürzte und ſtarb. Aufrichtig beweinten die Fran-
zoſen ihren Thronfolger. In ſeinem Teſtamente ermahnte er ſeinen Erben,
allezeit ein Katholik, ein ergebener Sohn Frankreichs und der Revolution
zu bleiben, auch wenn er nie die Krone tragen ſollte; und ſo als ein echter
Vertreter des modernen militäriſch-liberalen franzöſiſchen Geiſtes hatte er
ſich ſelber immer gehalten. Eine Welt von ehrgeizigen Hoffnungen ging
mit ihm zu Grabe, und Alfred de Muſſet ſang: „doch eine Seite bleibt
in der Geſchichte leer, ein ganz Jahrhundert, ach, voll Ruhmes kommt
nicht mehr!“ Nach heftigen parlamentariſchen Kämpfen wurde die Regent-
ſchaft für den Fall der Thronbeſteigung des minderjährigen Grafen von
Paris dem älteſten Oheim, dem Herzog von Nemours übertragen. Dieſem
Lieblingsſohne Ludwig Philipp’s konnte Niemand, wie dem Verſtorbenen,
kühne kriegeriſche Pläne zutrauen; das Volk aber liebte den ernſten, ſteifen,
conſervativen Prinzen wenig, und wer durfte hoffen, daß eine ſolche Regent-
ſchaft ſich halten oder die nationalen Leidenſchaften bändigen würde?

Je dunkler alſo die Ausſichten des Julikönigthums erſchienen, um ſo
ängſtlicher vermieden die Mächte Alles was den Beſtand dieſer gebrech-
lichen Dynaſtie irgend gefährden konnte. Darum wurde König Friedrich
Wilhelm von den verbündeten Höfen nur mit leeren Worten unterſtützt,
als er das rechtswidrige Unternehmen des belgiſch-franzöſiſchen Zoll-
vereins bekämpfte und ſchließlich vernichtete. Ebenſo vereinſamt ſtand er

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[[524]/0538] Siebenter Abſchnitt. Polen und Schleswigholſtein. Seit der Meerengen-Vertrag den Weltfrieden nothdürftig hergeſtellt und zugleich alle die alten Allianzen gelockert hatte, blieb die diplomatiſche Welt mehrere Jahre hindurch faſt unbeweglich. In den Kolonien betrieb Eng- land, in Inneraſien Rußland unausgeſetzt die alte Eroberungspolitik; in Europa aber ſuchten alle Mächte behutſam den Frieden zu wahren. Die einen lähmte die Ahnung der nahenden Revolution, die anderen die Angſt vor den Kriegswirren, welche der Tod des alternden Bürgerkönigs herauf- zuführen drohte. Wie unberechenbar die Zukunft dieſer geraubten Krone war, das fühlten alle tief erſchreckt, als der Herzog von Orleans im Juli 1842 aus dem Wagen ſtürzte und ſtarb. Aufrichtig beweinten die Fran- zoſen ihren Thronfolger. In ſeinem Teſtamente ermahnte er ſeinen Erben, allezeit ein Katholik, ein ergebener Sohn Frankreichs und der Revolution zu bleiben, auch wenn er nie die Krone tragen ſollte; und ſo als ein echter Vertreter des modernen militäriſch-liberalen franzöſiſchen Geiſtes hatte er ſich ſelber immer gehalten. Eine Welt von ehrgeizigen Hoffnungen ging mit ihm zu Grabe, und Alfred de Muſſet ſang: „doch eine Seite bleibt in der Geſchichte leer, ein ganz Jahrhundert, ach, voll Ruhmes kommt nicht mehr!“ Nach heftigen parlamentariſchen Kämpfen wurde die Regent- ſchaft für den Fall der Thronbeſteigung des minderjährigen Grafen von Paris dem älteſten Oheim, dem Herzog von Nemours übertragen. Dieſem Lieblingsſohne Ludwig Philipp’s konnte Niemand, wie dem Verſtorbenen, kühne kriegeriſche Pläne zutrauen; das Volk aber liebte den ernſten, ſteifen, conſervativen Prinzen wenig, und wer durfte hoffen, daß eine ſolche Regent- ſchaft ſich halten oder die nationalen Leidenſchaften bändigen würde? Je dunkler alſo die Ausſichten des Julikönigthums erſchienen, um ſo ängſtlicher vermieden die Mächte Alles was den Beſtand dieſer gebrech- lichen Dynaſtie irgend gefährden konnte. Darum wurde König Friedrich Wilhelm von den verbündeten Höfen nur mit leeren Worten unterſtützt, als er das rechtswidrige Unternehmen des belgiſch-franzöſiſchen Zoll- vereins bekämpfte und ſchließlich vernichtete. Ebenſo vereinſamt ſtand er

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. [524]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/538>, abgerufen am 13.11.2024.