V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
oder anderer ausländischer Geheimbünde zu erkennen gaben. Der ganze Umfang dieser weitverzweigten unterirdischen Wühlerei wird wohl immer im Dunkel bleiben; wie erfolgreich sie aber arbeitete, das erwiesen die Barrikadenkämpfe des Revolutionsjahres. Auch die Zeitpoeten Freiligrath, Wilhelm Jordan, Karl Beck besangen jetzt schon öfter das sociale Elend als den politischen Freiheitskampf; der Deutschböhme Alfred Meißner klagte:
Denn Alle wollen Gold und Metzen, Paläste, Tafeln, Pferd' und Hetzen, Das arme Volk will schwarzes Brot!
Weit größere Verbreitung fanden die schlechten Uebersetzungen der neuesten aus Schmutz und Blut gemischten französischen Poesie. Die Weltweisheit dieser socialen Dichtung ließ sich mit dem denkbar geringsten geistigen Aufwande verstehen, man brauchte nur alle Begriffe einfach auf den Kopf zu stellen: Gott ist die Sünde, die Ehe ist Unzucht, Eigenthum ist Diebstahl. Eugen Sue's Ewiger Jude und die Geheimnisse von Paris wurden in Deutschland massenhaft gelesen; die ekelhaften Bilder des weichherzigen Gurgelabschneiders, der tugendhaften Bordelldirne, des ehrlichen Spitzbuben und des grausamen Wucherers vergifteten Unzähligen die Phantasie. Fast der gleiche romanhafte Reiz lockte die Deutschen auch zu Louis Blanc's Geschichte der zehn Jahre, die in einem Jahre dreimal übersetzt wurde. Ein mittelmäßiger, gedankenarmer Kopf, aber ein ge- wandter Erzähler, wußte L. Blanc die Geldherrschaft der Bourgeoisie mit allen Sünden ihrer Hartherzigkeit anschaulich darzustellen und die em- pörten Leser dann zu trösten durch das unbestimmte Idealbild einer zu- künftigen Organisation der Arbeit, bei dem sich Jeder Jedes denken konnte. Auch ein Gegner der Radicalen, Lamartine förderte arglos die Bestre- bungen der Umsturzpartei. Seine Geschichte der Girondisten verklärte die häßliche Prosa der Revolutionskämpfe durch den Zauber hochpoetischer Schilderungen und trieb mit dem politischen Verbrechen einen sentimen- talen Götzendienst, der den deutschen Halbgebildeten besser zusagte als der historische Ernst Niebuhr's, Carlyle's oder Dahlmann's.
Derweil also der sociale Unfriede durch unzählige Agenten und Schriften geschürt wurde, erlebte Deutschland auch schon einzelne Fälle gräßlicher Massennoth. In Berlin lebten um 1847 etwa 10,000 Almosen- empfänger und 30,000 polizeilich überwachte Personen, während die Zahl der wirklich leistungsfähigen Bürger nur auf 20,000 geschätzt wurde. Ost- preußen kam seit den großen Ueberschemmungen des Jahres 1845 und wiederholten Mißernten gar nicht mehr aus dem Nothstande heraus. Minister Flottwell bemühte sich zwar redlich das Elend in seiner geliebten Heimath zu lindern; mehr als eine Mill. Thlr. wurde nach und nach zur Unterstützung dieser einen Provinz aufgewendet, leider planlos und mit geringem Erfolge.
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
oder anderer ausländiſcher Geheimbünde zu erkennen gaben. Der ganze Umfang dieſer weitverzweigten unterirdiſchen Wühlerei wird wohl immer im Dunkel bleiben; wie erfolgreich ſie aber arbeitete, das erwieſen die Barrikadenkämpfe des Revolutionsjahres. Auch die Zeitpoeten Freiligrath, Wilhelm Jordan, Karl Beck beſangen jetzt ſchon öfter das ſociale Elend als den politiſchen Freiheitskampf; der Deutſchböhme Alfred Meißner klagte:
Denn Alle wollen Gold und Metzen, Paläſte, Tafeln, Pferd’ und Hetzen, Das arme Volk will ſchwarzes Brot!
Weit größere Verbreitung fanden die ſchlechten Ueberſetzungen der neueſten aus Schmutz und Blut gemiſchten franzöſiſchen Poeſie. Die Weltweisheit dieſer ſocialen Dichtung ließ ſich mit dem denkbar geringſten geiſtigen Aufwande verſtehen, man brauchte nur alle Begriffe einfach auf den Kopf zu ſtellen: Gott iſt die Sünde, die Ehe iſt Unzucht, Eigenthum iſt Diebſtahl. Eugen Sue’s Ewiger Jude und die Geheimniſſe von Paris wurden in Deutſchland maſſenhaft geleſen; die ekelhaften Bilder des weichherzigen Gurgelabſchneiders, der tugendhaften Bordelldirne, des ehrlichen Spitzbuben und des grauſamen Wucherers vergifteten Unzähligen die Phantaſie. Faſt der gleiche romanhafte Reiz lockte die Deutſchen auch zu Louis Blanc’s Geſchichte der zehn Jahre, die in einem Jahre dreimal überſetzt wurde. Ein mittelmäßiger, gedankenarmer Kopf, aber ein ge- wandter Erzähler, wußte L. Blanc die Geldherrſchaft der Bourgeoiſie mit allen Sünden ihrer Hartherzigkeit anſchaulich darzuſtellen und die em- pörten Leſer dann zu tröſten durch das unbeſtimmte Idealbild einer zu- künftigen Organiſation der Arbeit, bei dem ſich Jeder Jedes denken konnte. Auch ein Gegner der Radicalen, Lamartine förderte arglos die Beſtre- bungen der Umſturzpartei. Seine Geſchichte der Girondiſten verklärte die häßliche Proſa der Revolutionskämpfe durch den Zauber hochpoetiſcher Schilderungen und trieb mit dem politiſchen Verbrechen einen ſentimen- talen Götzendienſt, der den deutſchen Halbgebildeten beſſer zuſagte als der hiſtoriſche Ernſt Niebuhr’s, Carlyle’s oder Dahlmann’s.
Derweil alſo der ſociale Unfriede durch unzählige Agenten und Schriften geſchürt wurde, erlebte Deutſchland auch ſchon einzelne Fälle gräßlicher Maſſennoth. In Berlin lebten um 1847 etwa 10,000 Almoſen- empfänger und 30,000 polizeilich überwachte Perſonen, während die Zahl der wirklich leiſtungsfähigen Bürger nur auf 20,000 geſchätzt wurde. Oſt- preußen kam ſeit den großen Ueberſchemmungen des Jahres 1845 und wiederholten Mißernten gar nicht mehr aus dem Nothſtande heraus. Miniſter Flottwell bemühte ſich zwar redlich das Elend in ſeiner geliebten Heimath zu lindern; mehr als eine Mill. Thlr. wurde nach und nach zur Unterſtützung dieſer einen Provinz aufgewendet, leider planlos und mit geringem Erfolge.
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oder anderer ausländiſcher Geheimbünde zu erkennen gaben. Der ganze
Umfang dieſer weitverzweigten unterirdiſchen Wühlerei wird wohl immer
im Dunkel bleiben; wie erfolgreich ſie aber arbeitete, das erwieſen die
Barrikadenkämpfe des Revolutionsjahres. Auch die Zeitpoeten Freiligrath,
Wilhelm Jordan, Karl Beck beſangen jetzt ſchon öfter das ſociale Elend
als den politiſchen Freiheitskampf; der Deutſchböhme Alfred Meißner
klagte:
Denn Alle wollen Gold und Metzen,
Paläſte, Tafeln, Pferd’ und Hetzen,
Das arme Volk will ſchwarzes Brot!
Weit größere Verbreitung fanden die ſchlechten Ueberſetzungen der
neueſten aus Schmutz und Blut gemiſchten franzöſiſchen Poeſie. Die
Weltweisheit dieſer ſocialen Dichtung ließ ſich mit dem denkbar geringſten
geiſtigen Aufwande verſtehen, man brauchte nur alle Begriffe einfach auf
den Kopf zu ſtellen: Gott iſt die Sünde, die Ehe iſt Unzucht, Eigenthum
iſt Diebſtahl. Eugen Sue’s Ewiger Jude und die Geheimniſſe von
Paris wurden in Deutſchland maſſenhaft geleſen; die ekelhaften Bilder
des weichherzigen Gurgelabſchneiders, der tugendhaften Bordelldirne, des
ehrlichen Spitzbuben und des grauſamen Wucherers vergifteten Unzähligen
die Phantaſie. Faſt der gleiche romanhafte Reiz lockte die Deutſchen auch
zu Louis Blanc’s Geſchichte der zehn Jahre, die in einem Jahre dreimal
überſetzt wurde. Ein mittelmäßiger, gedankenarmer Kopf, aber ein ge-
wandter Erzähler, wußte L. Blanc die Geldherrſchaft der Bourgeoiſie mit
allen Sünden ihrer Hartherzigkeit anſchaulich darzuſtellen und die em-
pörten Leſer dann zu tröſten durch das unbeſtimmte Idealbild einer zu-
künftigen Organiſation der Arbeit, bei dem ſich Jeder Jedes denken konnte.
Auch ein Gegner der Radicalen, Lamartine förderte arglos die Beſtre-
bungen der Umſturzpartei. Seine Geſchichte der Girondiſten verklärte die
häßliche Proſa der Revolutionskämpfe durch den Zauber hochpoetiſcher
Schilderungen und trieb mit dem politiſchen Verbrechen einen ſentimen-
talen Götzendienſt, der den deutſchen Halbgebildeten beſſer zuſagte als der
hiſtoriſche Ernſt Niebuhr’s, Carlyle’s oder Dahlmann’s.
Derweil alſo der ſociale Unfriede durch unzählige Agenten und
Schriften geſchürt wurde, erlebte Deutſchland auch ſchon einzelne Fälle
gräßlicher Maſſennoth. In Berlin lebten um 1847 etwa 10,000 Almoſen-
empfänger und 30,000 polizeilich überwachte Perſonen, während die Zahl
der wirklich leiſtungsfähigen Bürger nur auf 20,000 geſchätzt wurde. Oſt-
preußen kam ſeit den großen Ueberſchemmungen des Jahres 1845 und
wiederholten Mißernten gar nicht mehr aus dem Nothſtande heraus.
Miniſter Flottwell bemühte ſich zwar redlich das Elend in ſeiner geliebten
Heimath zu lindern; mehr als eine Mill. Thlr. wurde nach und nach
zur Unterſtützung dieſer einen Provinz aufgewendet, leider planlos und mit
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/532>, abgerufen am 25.11.2024.
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