V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
trage des Cantons Zürich schrieb dann der conservativ-liberale Bluntschli einen verständigen Bericht über die Communisten in der Schweiz. Die Veröffentlichung dieser Denkschrift bewirkte freilich, daß die Bestrebungen der Anarchisten erst jetzt in weiten Kreisen bekannt wurden und in den nächsten Monaten an dreihundert deutsche Handwerker der Pariser Com- munistengesellschaft beitraten; einer ihrer Führer, Moses Heß dankte dem Züricher Juristen sogar in einer höhnischen Adresse, weil er der guten Sache so viele neue Anhänger gewonnen hätte.*)
Mittlerweile war in der Schweiz nochmals ein "Junges Deutschland" zusammengetreten, und zum dritten male erlangte dieser Name eine flüch- tige Bedeutung. Der neue Arbeiterbund hatte aber mit den Genossen Mazzini's kaum mehr gemein als mit der gleichnamigen deutschen Literaten- schule; er verschmähte alle nationalen Ideen und ging grundsätzlich darauf aus, den Massen den Glauben an das Bestehende, zumal den religiösen Glauben zu rauben. Von den älteren Verschwörern trat nur der Poet Harro Harring bei; der ging jetzt, gleich allen Genossen, in der Arbeiter- bluse einher und sang:
Stürzet den Mammon, dann werden versinken Bald auch die Throne mitsammt ihrer Pracht!
Die neuen Führer waren durchweg unbedeutende Menschen: ein philosophischer Schüler Ruge's Döleke, ein Schlosser Standau, ein lang- bärtiger, feierlich blickender Prophet Kuhlmann, ein windiger Hamburger Kaufmannsdiener W. Marr, der nachher, ausgewiesen, seine schweizerischen Heldenthaten in einem umfänglichen Buche selbst verherrlichte. Gleich- wohl fanden die Demagogen starken Anhang. Der genossenschaftliche Sinn, der so tief im deutschen Wesen wurzelt und weder in den ver- fallenden alten Zünften noch in den neuen Fabriken Befriedigung fand, konnte sich in den communistischen Vereinen bethätigen. Auf ihren Rede- und Leseabenden zeigten die Arbeiter viel achtungswerthen Bildungsdrang, aber wie schändlich ward er mißleitet durch die Apostel eines den Staat und jede gesellschaftliche Ordnung leugnenden "Anarchismus". So nannte Marr selber seine Doctrin. Ihre atheistischen Grundsätze schöpften die Genossen aus Feuerbach's "Religion der Zukunft", einem Buche, das durch seine schöne Sprache und durch den idealistischen Schwung eines nicht unedlen Gemüths grade die Halbgebildeten bezaubern mußte.
Die Häuptlinge der schweizerischen Anarchisten empfingen geheime Wei- sungen aus Paris durch den Dr. Ewerbeck.**) Dort an der Seine bestand ein ganzes Nest von communistischen Geheimbünden, die sich zumeist von der alten Gesellschaft der Menschenrechte abgezweigt hatten. Längst
*) Graf Arnim's Bericht, Paris 26. Sept. 1843.
**) Schreiben des Pariser Poizeipräfekten Delessart an den preußischen Gesandten Graf Arnim, 16. Mai 1845.
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
trage des Cantons Zürich ſchrieb dann der conſervativ-liberale Bluntſchli einen verſtändigen Bericht über die Communiſten in der Schweiz. Die Veröffentlichung dieſer Denkſchrift bewirkte freilich, daß die Beſtrebungen der Anarchiſten erſt jetzt in weiten Kreiſen bekannt wurden und in den nächſten Monaten an dreihundert deutſche Handwerker der Pariſer Com- muniſtengeſellſchaft beitraten; einer ihrer Führer, Moſes Heß dankte dem Züricher Juriſten ſogar in einer höhniſchen Adreſſe, weil er der guten Sache ſo viele neue Anhänger gewonnen hätte.*)
Mittlerweile war in der Schweiz nochmals ein „Junges Deutſchland“ zuſammengetreten, und zum dritten male erlangte dieſer Name eine flüch- tige Bedeutung. Der neue Arbeiterbund hatte aber mit den Genoſſen Mazzini’s kaum mehr gemein als mit der gleichnamigen deutſchen Literaten- ſchule; er verſchmähte alle nationalen Ideen und ging grundſätzlich darauf aus, den Maſſen den Glauben an das Beſtehende, zumal den religiöſen Glauben zu rauben. Von den älteren Verſchwörern trat nur der Poet Harro Harring bei; der ging jetzt, gleich allen Genoſſen, in der Arbeiter- bluſe einher und ſang:
Stürzet den Mammon, dann werden verſinken Bald auch die Throne mitſammt ihrer Pracht!
Die neuen Führer waren durchweg unbedeutende Menſchen: ein philoſophiſcher Schüler Ruge’s Döleke, ein Schloſſer Standau, ein lang- bärtiger, feierlich blickender Prophet Kuhlmann, ein windiger Hamburger Kaufmannsdiener W. Marr, der nachher, ausgewieſen, ſeine ſchweizeriſchen Heldenthaten in einem umfänglichen Buche ſelbſt verherrlichte. Gleich- wohl fanden die Demagogen ſtarken Anhang. Der genoſſenſchaftliche Sinn, der ſo tief im deutſchen Weſen wurzelt und weder in den ver- fallenden alten Zünften noch in den neuen Fabriken Befriedigung fand, konnte ſich in den communiſtiſchen Vereinen bethätigen. Auf ihren Rede- und Leſeabenden zeigten die Arbeiter viel achtungswerthen Bildungsdrang, aber wie ſchändlich ward er mißleitet durch die Apoſtel eines den Staat und jede geſellſchaftliche Ordnung leugnenden „Anarchismus“. So nannte Marr ſelber ſeine Doctrin. Ihre atheiſtiſchen Grundſätze ſchöpften die Genoſſen aus Feuerbach’s „Religion der Zukunft“, einem Buche, das durch ſeine ſchöne Sprache und durch den idealiſtiſchen Schwung eines nicht unedlen Gemüths grade die Halbgebildeten bezaubern mußte.
Die Häuptlinge der ſchweizeriſchen Anarchiſten empfingen geheime Wei- ſungen aus Paris durch den Dr. Ewerbeck.**) Dort an der Seine beſtand ein ganzes Neſt von communiſtiſchen Geheimbünden, die ſich zumeiſt von der alten Geſellſchaft der Menſchenrechte abgezweigt hatten. Längſt
*) Graf Arnim’s Bericht, Paris 26. Sept. 1843.
**) Schreiben des Pariſer Poizeipräfekten Deleſſart an den preußiſchen Geſandten Graf Arnim, 16. Mai 1845.
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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
trage des Cantons Zürich ſchrieb dann der conſervativ-liberale Bluntſchli
einen verſtändigen Bericht über die Communiſten in der Schweiz. Die
Veröffentlichung dieſer Denkſchrift bewirkte freilich, daß die Beſtrebungen
der Anarchiſten erſt jetzt in weiten Kreiſen bekannt wurden und in den
nächſten Monaten an dreihundert deutſche Handwerker der Pariſer Com-
muniſtengeſellſchaft beitraten; einer ihrer Führer, Moſes Heß dankte dem
Züricher Juriſten ſogar in einer höhniſchen Adreſſe, weil er der guten
Sache ſo viele neue Anhänger gewonnen hätte. *)
Mittlerweile war in der Schweiz nochmals ein „Junges Deutſchland“
zuſammengetreten, und zum dritten male erlangte dieſer Name eine flüch-
tige Bedeutung. Der neue Arbeiterbund hatte aber mit den Genoſſen
Mazzini’s kaum mehr gemein als mit der gleichnamigen deutſchen Literaten-
ſchule; er verſchmähte alle nationalen Ideen und ging grundſätzlich darauf
aus, den Maſſen den Glauben an das Beſtehende, zumal den religiöſen
Glauben zu rauben. Von den älteren Verſchwörern trat nur der Poet
Harro Harring bei; der ging jetzt, gleich allen Genoſſen, in der Arbeiter-
bluſe einher und ſang:
Stürzet den Mammon, dann werden verſinken
Bald auch die Throne mitſammt ihrer Pracht!
Die neuen Führer waren durchweg unbedeutende Menſchen: ein
philoſophiſcher Schüler Ruge’s Döleke, ein Schloſſer Standau, ein lang-
bärtiger, feierlich blickender Prophet Kuhlmann, ein windiger Hamburger
Kaufmannsdiener W. Marr, der nachher, ausgewieſen, ſeine ſchweizeriſchen
Heldenthaten in einem umfänglichen Buche ſelbſt verherrlichte. Gleich-
wohl fanden die Demagogen ſtarken Anhang. Der genoſſenſchaftliche
Sinn, der ſo tief im deutſchen Weſen wurzelt und weder in den ver-
fallenden alten Zünften noch in den neuen Fabriken Befriedigung fand,
konnte ſich in den communiſtiſchen Vereinen bethätigen. Auf ihren Rede-
und Leſeabenden zeigten die Arbeiter viel achtungswerthen Bildungsdrang,
aber wie ſchändlich ward er mißleitet durch die Apoſtel eines den Staat
und jede geſellſchaftliche Ordnung leugnenden „Anarchismus“. So nannte
Marr ſelber ſeine Doctrin. Ihre atheiſtiſchen Grundſätze ſchöpften die
Genoſſen aus Feuerbach’s „Religion der Zukunft“, einem Buche, das durch
ſeine ſchöne Sprache und durch den idealiſtiſchen Schwung eines nicht
unedlen Gemüths grade die Halbgebildeten bezaubern mußte.
Die Häuptlinge der ſchweizeriſchen Anarchiſten empfingen geheime Wei-
ſungen aus Paris durch den Dr. Ewerbeck. **) Dort an der Seine beſtand
ein ganzes Neſt von communiſtiſchen Geheimbünden, die ſich zumeiſt
von der alten Geſellſchaft der Menſchenrechte abgezweigt hatten. Längſt
*) Graf Arnim’s Bericht, Paris 26. Sept. 1843.
**) Schreiben des Pariſer Poizeipräfekten Deleſſart an den preußiſchen Geſandten
Graf Arnim, 16. Mai 1845.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/528>, abgerufen am 22.11.2024.
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